Nach einem gemeinsamen Abendessen in Despinas Wohnung hatten sie noch eine Flasche Rakomelo geöffnet.
»Während in fast ganz Griechenland alle auf Ouzo schwören, gibt es für uns hier auf Kreta nur ein Nationalgetränk: den Rakí. Und der darf nicht mit dem türkischen Raki verwechselt werden. Es gibt nur wenige Betriebe auf Kreta, die die staatliche Berechtigung besitzen, um Rakí zu brennen. Genauso sieht es mit dem Rakomelo aus. Diese spezielle Mischung von Rakí, Honig und einigen Gewürzen findet man zwar in vielen Dörfern und Geschäften, die Qualität ist aber unterschiedlich. Die Marke, die wir im Laden verkaufen, hat auch eine staatliche Lizenz, aber das ist nicht der Grund, warum ich ihn so liebe. Tákis und ich haben schon viele Sorten ausprobiert, aber dieser hier ist so ziemlich der beste, den wir bisher getrunken haben.«
Mitten in ihrem kurzen Vortrag hatte das geklonte Telefon angefangen zu leuchten. Despina nahm das Handy und las vor, was zwischen Maria und ihrer Freundin geschrieben wurde.
»Vanessa will wissen, wie reich Du wirklich bist, Ryan«, las Despina vor.
Kurz darauf kam von Maria ein Bild als Antwort. Sie hatte ein Bild von Ryans Uhr aus dem Internet an ihre Freundin geschickt. Dazu schrieb sie: »Nur ein Beispiel, das ist seine Uhr, eine Breitling. Im Internet gibt es die um 30.000.«
Ihre Freundin war beeindruckt und riet ihr, Ryan nicht alles zahlen zu lassen, aber dennoch die Vorzüge eines »heißen Typs mit massig Kohle« auszukosten.
»Die beiden Frauen passen zusammen wie die Faust ins Auge«, meinte Tákis abfällig.
»Faust aufs Auge, Tákis. Hast Du morgen schon etwas vor?«, fragte Ryan.
»Noch nicht, aber ich nehme an …«
»Mein Schatz, morgen Abend haben wir eigentlich schon etwas vor«, unterbrach Despina ihm. Ryan bemerkte, dass es ihr im selben Moment unangenehm war, Tákis unterbrochen zu haben.
»Ich bräuchte Deine Hilfe am Vormittag bis ungefähr zu Mittag. Der Abend würde ganz Euch gehören, keine Sorge«, beruhigte Ryan sie, »Darf ich erfahren, was ihr am Abend Besonderes vorhabt?«
»Wir sind verabredet mit einigen Bekannten«, erklärte Tákis, der Despina etwas irritiert ansah.
»Du lügst.« Ryan kannte seinen besten Freund zu gut, abgesehen von seiner besonderen Begabung, Menschen sehr gut einschätzen zu können.
»Wir wollten einfach etwas Zeit für uns. Du weißt schon, was liebende Pärchen so tun. Ich glaube, das verstehst Du, oder?«, versuchte Despina ihm einzureden. Ryan erkannte sofort, dass auch das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Das würde ich voll und ganz verstehen, aber ich muss Dir leider sagen, Lockenkopf, dass ich Dir nicht ganz glauben kann. Was habt ihr denn so Geheimnisvolles vor?«
»Erstens, Maria will morgen nichts überstürzen und sich Zeit lassen. Sie schreibt, wenn Du es ernst mit ihr meinst, dann wirst Du noch etwas warten. Und zweitens, zum Teufel mit Deinen Psychologiestudium und Deiner Menschenkenntnis«, fluchte Despina, nicht ganz im Ernst.
»Es waren nur ein paar Semester, die ich studiert habe«, verteidigte sich Ryan. Tákis lehnte sich zurück und grinste seine Freundin an.
»Egal, Du gehörst ja sowieso zur Familie«, gab sich Despina geschlagen, »Wir wollen morgen Abend in Heraklion in einen neuen Club gehen und … wie soll ich das sagen … Dieser Club ist mehr für Paare.«
Ryan lachte auf und nahm einen Schluck vom bereitgestellten Rakomelo.
»Ich verstehe. Nein, in einen Swinger-Club möchte ich nicht mitgehen, das überlasse ich ganz Euch.«
»Nachdem wir das nun besprochen haben, was hast Du genau vor?«
»Das hängt davon ab. Wie leicht kommst Du an eine Waffe, Tákis?«
»Pistole, Gewehr oder soll es ein Raketenwerfer sein?«, fragte dieser trocken nach.
»Ein Scharfschützengewehr und jemanden, der damit umgehen kann«, erklärte Ryan und sah in zwei sehr erstaunte Gesichter.
Ryan stand schon eine halbe Stunde vor dem geplanten Treffen am Hafen von Bali. Der kleine Hafen passte zu diesem, noch recht ursprünglichen, Ort und lag am Beginn der eigentlichen Altstadt von Bali. Neben einem Restaurant führten Stiegen hinauf zur Hauptstraße, wo sich der touristische Teil der Ortschaft erstreckte. Auf der anderen Seite führte der Weg hinauf in die kleinen Gassen Balis, wo sich die Wohnhäuser der Ortsansässigen aneinanderreihten. Ryan war über die einzige Zufahrtsstraße zum Strand spaziert, die ebenfalls nicht dem Tourismus verfallen war. Vielmehr fand man dort Einheimische vor ihren Häusern sitzen, die Frauen beim tratschen, die Männer spielten mit ihrem Komboloi. Diese kleinen Kettchen aus Glas-, Bernstein- oder auch Plastikperlen, die auf einem Faden befestigt waren, gehörten in Kreta zu den einheimischen Männern, wie die Farbe schwarz zu den Frauen. Sie galten sowohl als Glücksbringer als auch Fingerspiel oder einfach nur zum Zeitvertreib.
Am kleinen Strand versammelten sich die ersten Wassersüchtigen, die Lokale waren nur wenig besucht und er konnte zusehen, wie die Getränkelieferanten eifrig herumwuselten. Neben den obligaten Sonnenliegen lagen auch einige Tretboote, Jet-Skis und Kanus am Strand.
Die Fischerboote waren schon ausgefahren, um für die Restaurants und Geschäfte frischem Fisch zu angeln. Am Pier waren nur noch wenige Schiffe, vorwiegend die Ausflugsboote, die am Vormittag losfuhren.
Ryan blickte über das Wasser zu einem bewaldeten Berg, der von jedem Strand aus zu sehen war. Es war kein besonders großer Berg, ohne Namen und mit einer Höhe von gerade einmal 600 Metern. Vor vielen Jahren waren Ryan und Tákis über einen Feldweg und quer über Wiesen und steinigen Boden gewandert, bis sie den Gipfel erreicht hatten. Die Aussicht auf das Meer und auf Bali hatte sie beide damals beeindruckt. Ryan konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie am Gipfel in der Sonne lagen und über ihre Zukunft sprachen. Damals, mit fünfzehn Jahren, sprachen sie noch auf Englisch miteinander. Ryan konnte den jungen Tákis in seinem Kopf hören.
»Wenn ich einmal eine richtige Freundin habe, dann werde ich mit ihr hier hinauf wandern. Der Platz ist ideal, um mit einer Frau alleine zu sein.«
Nachdem er einige Wochen mit Despina zusammen war, hatte Tákis Ryan eine kurze E-Mail geschrieben, die nur zwei Sätze enthielt: Erinnerst Du Dich an unseren Tag am Berg und was ich damals sagte? Ich war mit Despina oben und ich kann Dir nur sagen, es war der beste Tag und die beste Nacht meines Lebens.
Ansonsten hatte Tákis nie große berufliche Pläne. Ihm war es wichtiger, dass es seiner Familie gut ging und er immer für seine Eltern und seine kleineren Geschwister da sein konnte. Ryan hatte damals noch den Traum, Lehrer zu werden. Aber dieser Traum war ebenso schnell ausgeträumt, wie viele weitere Berufswünsche. Eigentlich war Ryan zum ersten Mal wirklich zufrieden mit seinem Beruf, als er bei der griechischen Botschaft anfing. Dann, als er vom Unfall von Tákis Vater erfuhr und sich herausstellte, dass Victor Granat Schuld an dessen Tod hatte, konzentrierte sich Ryan nur noch auf ein Ziel: Rache an Victor Granat und den Menschen, die ihn umgaben.
Der Wagen von Chin Lee erschien und holte Ryan wieder in die Gegenwart zurück. Für den heutigen Tag hatte er auf die scheinbar teure Kleidung verzichtet. Er trug knielange Badeshorts, ein orangefarbenes T-Shirt und natürlich seine Brille, die er als Ryan Bradly immer trug. In seinem Rucksack hatte er neben einem Badetuch noch eine zusammengefaltete Luftmatratze eingepackt, zwei Schwimmbrillen, eine Trinkflasche und einen kleinen wasserdichten Beutel. Maria stieg aus und Ryan musste erneut zugeben, dass er es mit einer äußerst attraktiven Person zu tun hatte. Wenn nur der Charakter nicht so verdorben wäre. Die weiße, hautenge Hotpants und ihr ebenso enges Shirt betonten ihren Körper perfekt. Unter dem Shirt konnte Ryan einen roten Bikini erkennen. Sie winkte ihm zu, schnappte sich ihren Rucksack aus dem Wagen und spazierte ihm entgegen. Chin Lee wendete und verschwand umgehend wieder.
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