So waren drei Jahre wie im Flug vergangen. In der Zwischenzeit war Colorado Bundesstaat geworden, hundert Jahre nachdem die Vereinigten Staaten gegründet worden waren.
Manchmal erschien es Eleonore, als ob sie erst gestern aus dem Zug gestiegen wären, ängstlich und bang, was sie erwarten würde.
Und was hatten sie stattdessen gefunden!
Einige Wochen vor Lottas drittem Geburtstag flüsterte Ruth ihr zu: „Sven bekommt ein Geschwisterchen!“
Eleonore riss die Augen auf. „Waaaaas?“
Die Freundinnen saßen in dicke Decken gehüllt auf der Veranda der Hope Ranch und ließen sich das letzte bisschen Herbstsonne, das die bewaldeten Hügel rundherum in einer wahren Farbexplosion leuchten ließ, in die Gesichter scheinen. Sie hatten beide eine Tasse Tee in den behandschuhten Händen und hatten einfach die Ruhe genossen und nur hier und da Belanglosigkeiten ausgetauscht. Ihre Freundschaft war spätestens seit der Ankunft auf der Hope Ranch von der Art, bei der man zusammen auch schweigen konnte und nicht jede Stille mit Worten zu füllen versuchte.
Ruth nickte langsam, während sich ein tief aus ihr herauskommendes Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete.
„Oh, Ruth! Das ist ja wundervoll!“ Eleonore stellte vorsichtig die Tasse ab und schälte sich halb aus einigen Lagen der Decken, in die sie gehüllt waren, damit sie die Freundin umarmen konnte.
„Nun doch?“ Eleonore spielte darauf an, dass Ruth bisher mit ihrem Unternehmen, das sich als äußerst gewinnbringend etabliert hatte, und mit Sven und Gunnar vollauf zufrieden und ausgelastet gewesen war. Ruth hatte immer gesagt, dass sie nichts sehnlicher wollte als ein gemeinsames Kind mit Gunnar, auch wenn sie Sven heiß und innig liebte und er ihr Ein und Alles war. Aber die Zeit war bisher noch nicht reif gewesen: „Der Moment wird kommen, wenn es soweit ist. Aber später! Erst das Geschäft, dann alles weitere.“
Scheinbar hatte sie nun beschlossen, dass die Zeit für „alles weitere“ gekommen war.
„Noch ein Kind auf der Hope Ranch“, murmelte Eleonore versonnen. Sie gönnte Ruth und Gunnar dieses Glück, keine Frage.
Aber eine ganz leise Stimme in ihrem Kopf fragte, ob sie irgendwann auch solch ein Glück finden würde. Eine ungewohnte Stimme.
Bisher war sie doch immer der festen Überzeugung gewesen, dass sie lieber allein durchs Leben ginge, als einen faulen Kompromiss einzugehen oder sich jemandem unterzuordnen – solange sie nur gute Freunde und Zugang zu Wissen und Bildung hatte.
Dass es auch anders ging, hatte sie nun seit drei Jahren vor Augen: Ruth und Gunnar waren der beste Beweis für eine liebevolle und vor allem gleichberechtigte Beziehung, und Ruth steckte in nichts zurück, nur weil sie verheiratet war.
Eleonore drängte den Gedanken ärgerlich zur Seite. Es wäre ja noch schöner, wenn sie anfing, auf Ruth eifersüchtig zu sein. Die wie kein anderer verdiente, glücklich zu sein, nach allem, was sie durchgemacht hatte.
Und Eleonore selbst, sie war doch auch glücklich und gesegnet mit so vielen guten Menschen und Dingen in ihrem Leben!
Und doch, in letzter Zeit erfasste sie hin und wieder eine gewisse innere Unruhe, ein Sehnen nach etwas, das sie nicht genauer greifen oder deuten konnte.
Vielleicht war es nur der Wetterumschwung…
Sie richtete den Blick wieder nach außen, auf Ruth, die vor sich hin strahlte.
„Im Frühjahr wird es da sein, denk nur! Ein kleiner Frühlingsbote!“
Eleonore lächelte.
Ruth langte zu ihr hinüber und ergriff ihre Hand. „Eleonore. Ich muss dir noch etwas sagen. Und weiß Gott, das fällt mir so fürchterlich schwer! Genau genommen habe ich das Gefühl, dass ich dich im Stich lasse! Schließlich bist du ja wegen mir hier gelandet... Wobei ich nicht den Eindruck habe, dass du es bereust. Vielleicht sollten wir aber Ausschau nach einem Mann für dich halten,…“
Eleonore rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte, dass da etwas im Busch war.
„Ruth“, unterbrach sie deren Redefluss fast etwas ungeduldig, „was ist es? Sag schon! Wir haben uns doch sonst alles erzählt, das kann doch jetzt nichts wirklich Schlimmes sein?“
„Eleonore, meine süße Eleonore. Gunnar und ich haben beschlossen, ein kleines Grundstück zu kaufen und dorthin zu ziehen. Es ist nicht wirklich weit von hier, aber es liegt noch viel günstiger zu den anderen Höfen und Ranchen, so dass ich schneller die Bestellungen einsammeln kann und wenn das Kind erst da ist, kann ich jede zusätzliche Minute gebrauchen. Und das Unternehmen läuft so gut, ich will nicht länger Manuels und Antonios Hilfe in Anspruch nehmen. Sie haben schon so viel für uns getan. Wir schaffen eigene Fahrzeuge an. Vielleicht stellen wir jemanden ein… Oh Eleonore, ich bin die selbstsüchtigste Person, die es gibt, oder? Aber ich bin ja immer noch hier, es ist wirklich nicht weit, du wirst sehen, wir können uns fast genauso oft sehen…“
Ruth plapperte in dieser Manier noch weiter, aber Eleonore hörte gar nicht mehr richtig hin.
Ihr war es tatsächlich, als ob man ihr den Boden unter den Füßen wegzog.
Natürlich konnte sie verstehen, was Ruth sagte. Und natürlich endete ihre Freundschaft nicht damit. Aber irgendwie, da hatte Ruth schon ganz Recht mit ihrer Befürchtung, fühlte sie sich doch plötzlich allein gelassen.
Sie waren doch alle irgendwie eine Art Familie auf der Hope Ranch!
Das konnten Gunnar und Ruth doch nicht einfach aufbrechen…
Mechanisch sagte sie: „Das ist wunderbar, Ruth. Natürlich müsst ihr euch auf eigene Füße stellen. Ich komm‘ vorbei und helf' dir, wenn das Kleine da ist. Das wird kaum ein Unterschied zu jetzt!“
Sie drückte Ruths Hand, die noch immer in ihrer lag. Ihr Verstand begriff die Worte, die sie selbst sagte, aber in ihrem Hals formte sich ein schwerer Kloß.
Sie nahm die Tasse wieder auf.
„Es wird kalt. Komm, wir sollten rein gehen. Du in deinem Zustand solltest sowieso nicht in der Kälte sitzen!“
Sie war um einen leichten Ton bemüht, aber sobald sie in ihrem Zimmer war, das sie mittlerweile natürlich allein bewohnte, liefen ihr Tränen die Wange herab. Zornig wischte sie diese mit der flachen Hand weg.
Was war nur los mit ihr?
Es blieben doch noch Anna und Erik und die kleine Lotta, Manuel und Antonio.
Sie hatte so viel, was ihr Leben mit Freude füllte, sie hatte angefangen, Sven zu unterrichten, sie konnte mittlerweile Bücher führen und eine Ranch verwalten, sie sprach sogar Schwedisch – Gott allein wusste, wofür das gut sein sollte!
Da kam es doch nicht darauf an, dass Ruth ein paar Meilen fort zog.
Aber sie hatte in Ruth immer ein wenig eine große Schwester oder Beschützerin gesehen, auch wenn sie selbst oft genug auf Ruth aufgepasst hatte. Ruths fröhliche, leichtfüßige Art hatte nicht nur auf sie abgefärbt, die Nähe hatte ihr auch Sicherheit gegeben.
Das Verhältnis zu den anderen war, obwohl innig und eng, nicht damit zu vergleichen.
Aber es gab nun einmal immer wieder Veränderungen im Leben! Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. Es wäre doch kleinlich von ihr und egoistisch obendrein, dem völlig verständlichen Wunsch Ruths, sich etwas Eigenes mit ihrem Mann aufbauen zu wollen, im Wege zu stehen. Das war nicht die Eleonore Williams, die sie sein wollte, die solche Gedanken hatte!
Entschlossen und ärgerlich schniefte sie ein letztes Mal.
Und wer wusste schon, wofür die Veränderung gut sein sollte.
Hatte sie nicht selbst immer gesagt, dass alles seinen Sinn hatte?
Außerdem hatte Ruth ihr erzählt, dass sie erst im Frühjahr umziehen würden. Genug Zeit also, sich an den Gedanken zu gewöhnen!
* * *
„Ms Williams? He da! Ms Williams!“
Eine hagere männliche Person kam auf sie zugeeilt. Sie erinnerte von weitem an eine Krähe.
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