Und so ging sie eben weiter. Sie drang tiefer in den Wald und setzte alle paar Meter einen schwarzen Pfeil an die Rinde eines Baumes.
Die ewig gleiche Umgebung, die Birken und das orangerote Laub, die vollkommene Stille, machten ihre Sinne stumpf. Sie konzentrierte sich auf das Rascheln und das vereinzelte Knacken toter Zweige, auf die sie trat. Sie betete, dass Nick in der Nähe war. Dass sie ihn finden und mit ihm von hier verschwinden konnte, wie auch immer sie das bewerkstelligen sollte.
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Dreihundert Meter hinter Cassandra pflügten schwarze Stiefel durch das Laub.
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Cassandra merkte davon nichts. Für sie existierte nur der Wald. Und etwas, das sie weiter voraus entdeckt hatte. Ein hypnotisches Etwas.
Im ersten Moment war sie so verwundert, dass sie stehenblieb und sich das verfilzte Haar aus dem Gesicht strich. Sie dachte, dass ihr möglicherweise ein Erdkrumen ins Auge geraten war, so eigenartig war der Anblick, der sich ihr bot.
Ganz hinten im Wald, dort wo die einzelnen Stämme der Birken gerade noch auseinanderzuhalten waren, schwebte ein scharf umrissener, schwarzer Punkt in der Luft. Cassandra blinzelte. Irgendwie stimmte hier die Tiefenschärfe nicht mehr. Die silberweißen Bäume und das Orangerot des Laubes waren auf diese Entfernung traumartig verschwommen. Das gelbe Sonnenlicht ließ den ganzen hinteren Teil des Waldes märchenhaft glühen. Die Rinde der Bäume reflektierte das Licht und verstärkte diesen Effekt. Aber dieser kleine schwarze Punkt war so scharf gezeichnet, dass Cassandras Gehirn ihr weismachen wollte, dass er direkt vor ihren Augen schwebte. Es war eine einfache optische Täuschung.
Nur was sollte das? Cassandra konnte nicht erkennen, um was für einen Gegenstand es sich bei diesem Punkt handelte, aber sie wusste, dass der Gegenstand nicht mitten in der Luft schweben sollte. War es ein Insekt? Oder vielleicht etwas, das von einem Seil hing?
Cassandra ging raschelnd ein paar Meter weiter, bis sie den Gegenstand sicher identifizieren konnte.
Es war Nicks Rucksack, der mitten in der Luft schwebte. In Cassandras Augenhöhe. Er stand still, drehte sich nicht.
In Cassandras Brust begann es zu schmerzen. Der Rucksack stand in der Luft, aber wo war sein Besitzer? Was war Nick hier zugestoßen? Sie ging näher heran, bis der Rucksack einen Meter vor ihrem Gesicht schwebte. Sie konnte sehen, dass er nirgendwo festgemacht worden war. Er war mitten in die Luft geklebt.
Da drin wartet Essen auf dich.
Der Köder hing direkt vor ihrer Nase. Greif einfach danach. Sieh was passiert.
Aber Cassandra war nicht dämlich. Sie griff nicht nach dem Rucksack. Sie rührte sich nicht. Sie war in eine Falle getreten, deren Funktion sie nicht kannte, und sie würde verdammt vorsichtig da wieder heraustreten. Einfach rückwärts wieder raus. Den gleichen Weg zurücklaufen.
Aber vorher würde sie einen Blick nach oben riskieren. Nur einen kurzen. Ihr Atem ging heiß und schnell. Er schmeckte nach Kupfer.
Nur ein Blick. Nur ganz kurz. Nur mal sehen, was diesen Schatten auf mich wirft.
Ihre Nackenmuskulatur zitterte. Sie konnte den Kopf nicht still halten, als sie nach oben blickte und einen markerschütternden Schrei ausstieß.
Ein unglaublicher Adrenalinstoß schoss durch ihren Körper. Ihre Oberschenkel verkrampften sich und warfen Cassandra nach hinten, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Sie landete rücklings im Laub und kroch von dem unsichtbaren Spinnennetz weg. Beim Kriechen fiel ihr das Wetzeisen aus der Tasche und sie ergriff es sofort, ohne inne zu halten, als die fleischfarbene Spinne zu Boden glitt.
Cassandra konnte nicht...
Sie konnte nicht aufstehen. Sie kroch.
Sechs Meter vor ihr lauerte die getarnte Spinne. Sie war so groß wie ein Mensch. Sie war breit wie ein Mensch.
Cassandra strampelte, kam aber nicht weiter. Sie hatte die Spinne aus den Augen verloren. Inmitten dieses orangefarbenen Laubs war die Spinne so gut wie unsichtbar. Eis wuchs durch Cassandras Adern. Sie hatte gesehen... Sie hatte die Anatomie gesehen... Die gewinkelten Beine, sie hatten Kniegelenke oben wo sie abknickten und wieder nach unten führten. Das Abdomen, aufgebläht und wabbelig, hatte einen Bauchnabel an der Unterseite. Der Thorax hatte Brustwarzen.
Cassandra wurde schwindelig. Der gleiche Schwindel wie im großen Reibeisen des Westcott Manor, in dem sie gestorben war.
Oh Gott, nicht noch einmal.
Die Beine! Such nach den Beinen, sie müssen aus dem Laub ragen.
Cassandras Blicke tanzten umher. Die ganze Umgebung zitterte unfokussiert, aber ja, da waren angewinkelte Beine. Zwei Reihen fleischfarbener Winkel. Sie bewegten sich nicht. Die Spinne lauerte.
Denk nach, Comtessa! Denk schnell! Die Spinne hat ein Netz. Es ist unsichtbar, aber der Rucksack hängt darin. Wenn sie mit einem Netz jagt, dann jagt sie nicht auf dem Boden, oder?
Aber das ist keine Spinne!!! Es ist ein Mensch. Oh Gott!
Irgendwo im Wald amüsierte sich jemand. Einen Moment lang dachte Cassandra, die Spinne würde lachen, und die Belustigung, die von einem solch entstellten Körper ausging, brachte Cassandras Verstand zum Zittern. Aber es war nicht die Spinne.
Als wäre diese eine Monstrosität, die sich im Laub versteckte, nicht genug, traten mit einem Mal vier weitere Monster hinter den Bäumen hervor. Cassandras Verstand war nicht in der Verfassung, sich zu fragen, wie sie sich so dicht hatten heranschleichen können und wie sie es schafften, sich hinter diesen Birken zu verstecken, denn der Schrecken, den die vier Neuankömmlinge erzeugten war viel schlimmer, als die Angst vor der Spinne. Cassandra vergaß die Spinne.
Was hinter den Birken hervortrat, waren vier Männer in adretten, tiefschwarzen Uniformen. Es war zu viel für Cassandra. Das, was sie in ihren entstellten Gesichtern sah, war zu viel.
Einer von ihnen war bei ihr, bevor sie merkte, mit welcher Geschwindigkeit er sich bewegte. Seine lederbezogene Hand griff tief in ihr Haar und schüttelte ihren Kopf hin und her. Cassandra schrie vor Angst, und brachte dadurch den Entstellten zum Lachen. Er schüttelte sie wie einen Hund.
Der kleinste der vier Neuankömmlinge kicherte wie ein Baby. Er kam heran und beugte sein monströses Gesicht über Cassandra, bevor er in ihr Schreien mit einstimmte. Wie eine Furie kreischte er ihr ins Gesicht. Sein kahler Kopf war über die gesamte Fläche von münzgroßen Facettenaugen bedeckt, die wie schwarzes Öl in allen Regenbogenfarben glänzten. Dutzende dieser Facettenaugen säumten seinen Schädel und ließen ihn wirken wie eine schwarze Discokugel. Statt einer Nase, besaß der uniformierte Mann winzige Atemlöcher über einem kleinen, ovalen Piranha- Mund. Der Mund war voller kleiner, dreieckiger Zähne, zwischen denen das irre Babygelächter hervorbrach.
Dem anderen, der Cassandra an den Haaren schüttelte, hatte man das Gesicht vom Schädel gezogen und dann mit der blutigen Seite nach außen wieder angenäht. Das Gesicht glänzte nicht. Das Blut und die dünne Fleischschicht waren eingetrocknet und rostbraun verfärbt. Während er Cassandra schüttelte, platzten schorfige Stücke von seinem Gesicht.
Cassandra verstand nicht, was diese Dämonen ihr ins Gesicht brüllten. Das Geschrei von Fleischgesicht und Facettenauge brachte sie um den Verstand. Die blinde Panik ließ Cassandra das einzige tun, zu dem sie noch fähig war.
Und auf einmal herrschte Ruhe. Fleischgesicht , Facettenauge und Cassandra verstummten. Sie alle sahen auf Facettenauges Bauch hinab. Auch die beiden Dämonen, die weiter hinten standen, sahen auf die zugeknöpfte Lederuniform ihres Kollegen und den Griff des Wetzeisens, der dort herausragte.
Cassandra wartete nicht darauf, dass die Überraschung der vier Männer nachließ. Sie sprang auf, opferte einen Teil ihrer Haare, die Fleischgesicht ihr ausriss und setzte zu einem Spurt an.
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