Das Westcott Manor sah ihr nach. Es wusste, dass Cassandra nicht zurückkehren würde.
2
Es war keine gute Idee. Cassandra erkannte das, bevor sie richtig loslief. Keine zwanzig Meter hatte sie zurückgelegt (das Manor war zwischen den Bäumen noch deutlich sichtbar) als die Verzweiflung sie einholte.
Was tue ich hier? Ich laufe einer schwachen Hoffnung hinterher, durch einen unbekannten Wald an einem unbekannten Ort in einem unbekannten... was? Land? Auf einem unbekannten Planeten? Wo zum Teufel bin ich überhaupt?
Es war alles so sinnlos, die Orientierungslosigkeit so perfekt. Cassandra konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie an einem realen Ort war oder womöglich schon im Jenseits. Immerhin war sie doch gestorben, mit einer Brutalität, die sie sich nicht hätte ausmalen können. Oder hatte das Haus ihr etwas vorgespielt? Ihr Halluzinationen beschert ähnlich denen, die sie ein halbes Jahr zuvor verfolgt hatten? Cassandra vermutete, so schrecklich der Gedanke auch war, dass sie in diesem Haus wirklich zerhackt worden war. Sie musste sterben, weil der Tod die einzige Tür zu dieser Welt war. Sie war gestorben und hier wiedergeboren worden, mitsamt den Kleidern am Leib und ihrem letzten Hab und Gut.
Moment...
Bevor sie in die Ungewissheit marschierte, sollte sie wenigstens ihr Equipment überprüfen. Womöglich trug sie etwas bei sich, das ihr bei der Suche nach Nick helfen konnte.
Sie zog den Reißverschluss herunter und griff in die Innentasche ihrer Jacke. Ihre Finger wühlten im weichen Futter, doch das einzige, das sie hervorholten war eine Packung Taschentücher und ein Lippenstift. Ihr dämlicher Lippenstift, den sie in der Schule nicht auftragen durfte, weil er so verdammt schwarz war. Sonst war da nichts. Ihre Taschen waren leer.
Cassandra riss den Arm hoch und wollte den nutzlosen Lippenstift davonschleudern, verharrte aber im letzten Moment. Sie senkte den Arm und zog die Kappe vom Lippenstift. Er war ganz neu, die Spitze noch abgeschrägt. Sie ging zum nächsten Baum und berührte die glatte weiße Rinde, die an verschiedenen Stellen schwärig aufgeplatzt war.
Wie komisch, dachte sie. Diese aufgeplatzten Stellen sehen fast wie Münder aus. Schwarz geschminkte Münder.
Mit dem Lippenstift malte sie einen dicken schwarzen Pfeil auf ein Stück unversehrte Rinde. Die Spitze zeigte zum Manor. Sollte sie Nick nicht finden können, würde Cassandra den Pfeilen folgen und wieder hierher zurückkommen, um auf ihn zu warten.
Mit dem Lippenstift in der Hand setzte sie ihren Weg fort. Sie achtete darauf, sich in einer geraden Linie zu bewegen, was ohne Kompass nicht einfach war. Mehrmals musste sie wieder zurück zum letzten markierten Baum und ihre Richtung neu bestimmen.
Eine Stunde später hatte sich die Gegend kaum verändert.
Der Muskelkater in ihrem Körper ließ langsam nach, aber sie musste immer häufiger gähnen, während sie um große, herabgefallene Äste trat und vereinzeltes, nacktes Gestrüpp zur Seite bog. Viele Hindernisse gab es hier nicht, darum wurde sie im Vorankommen kaum behindert. Sie legte ein gutes Stück Weg zurück, und sah dabei kein einziges Tier vorbeihuschen. Im Wald war es unheimlich still. Kein Vogelgezwitscher, keine tierischen Signallaute, kein einziges Geräusch kündete von Leben. Dieser Wald war ausgestorben. Er bildete die Endstation der Zeit selbst. Infinites Schweigen. Ende.
Müde und ohne Hoffnung lehnte sich Cassandra an eine Birke. Sie wusste, dass sie jetzt nicht einschlafen durfte. Wenn die Nacht hereinbrach, während sie hier unter einem Baum schlief, dann mochte ihr Gott-weiß-was zustoßen. Nur weil der Wald leer schien, hieß das nicht, dass hier nichts lebte. Sie konnte sich nur zu gut ausmalen, wie sie nachts aufschreckte, weil ein monströses Tier an ihrem Bein kaute.
Nein, sie würde sich nur kurz setzen, nur ein paar Minuten, und sich dann wieder auf die Suche machen. Nick musste hier irgendwo sein.
Die Minuten vergingen.
3
Während Cassandra unter dem Baum lag und versuchte, die Sonne auszumachen, glitt sie in einen sehr flachen Schlaf, der wie geschaffen dafür war, die Realität zu träumen. In dieser Zeit passierte weiter hinten beim Westcott Manor etwas Beunruhigendes.
Das Manor hatte sein Geburtsloch inzwischen verborgen. An seine Stelle trat die altbekannte weiße Haustür. Weiter vorne am Waldrand glitzerte die Verpackungsfolie von Nicks Schokoriegel. Cassandra hatte sie liegen gelassen. Was sollte sie ihr schon nützen? Ein Stück tiefer im Wald prangte der erste schwarze Pfeil auf einer Birke. Und dieser Pfeil zog Interesse auf sich.
Hätte Cassandra die schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefel gesehen, die in strammem Schritt zu der markierten Birke liefen, wäre ihr der Tag auf dem Brickrow Hill eingefallen, als die Welt sich verändert hatte, und sie für einen winzigen Moment diese Vision gehabt hatte. Die Vision von schwarzen Stiefeln.
...und von autoritärer Gewalt, in irgendeiner Form.
Genau diese Stiefel blieben vor der markierten Birke stehen. Die Gestalt, die Cassandras Pfeil betrachtete, war vollkommen schwarz gekleidet. Die Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Ein Zeigefinger fuhr durch den Balken des Pfeiles und verschmierte ihn. Es war eine neugierige Geste. Die schwarzgekleidete Gestalt radierte den Pfeil nicht aus.
Einige Sekunden später setzten die schwarzen Hochglanzstiefel ihren Weg fort. Die Gestalt eilte nicht, aber sie trödelte auch nicht. Zielstrebig holte sie Cassandra Stück für Stück ein.
4
Cassandra schreckte auf. Etwas kaute an ihrem rechten Bein. Die Schmerzen waren wieder da. Die Schmerzen, die sie gespürt hatte, als die riesige Küchenreibe sie in Stücke gehackt hatte. Sie trat aus, versuchte das monströse Tier von ihrem durchgebissenen Bein wegzuscheuchen. Sie trat um sich, traf aber nur Luft.
Da war kein Tier.
Sie hatte geträumt.
Der Wald hatte sich nicht verändert. Er war still und leer wie zuvor. Sie konnte höchstens einige Minuten geschlafen haben, da die Sonne sich nicht erkennbar weiterbewegt hatte. Sie stand ein bisschen links vom Zenit. Um sich die Orientierung zu erleichtern, hatte Cassandra entschieden, diese Richtung, die sie eingeschlagen hatte, Osten zu nennen, weil auf der Brickrow-Seite in dieser Richtung Osten lag. Wenn sie damit richtig liegen sollte, die Wahrscheinlichkeit stand in etwa eins zu drei, dann war es jetzt etwa 11.00 Uhr vormittags. Genauer würde sie die Zeit bestimmen können, wenn die Sonne weitergewandert war. Bis zum Abend würde sie die Himmelsrichtungen und die Uhrzeit kennen.
Vorausgesetzt, dass ich immer noch auf der Erde bin. Was für ein lächerlicher Gedanke.
Sie erhob sich und schüttelte sich das Laub von der Kleidung. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie über kurz oder lang etwas zu essen finden musste.
Nick hatte seine Schultasche dabeigehabt. Er pflegte zu sagen, dass er als Sportler mehr Kalorien verbrennen musste als normale Menschen. Zu diesem Zweck trüge er immer einen Vorrat an Schoko- und Powerriegeln bei sich, um seinen antrainierten Heißhunger zu bekämpfen. Cassandra wusste nicht, ob das die Wahrheit war, oder ob Nicks Heißhunger eine Nachwirkung des Kiffens war, aber im Moment beneidete sie ihn um seinen gefüllten Rucksack, den er mit auf diese Seite genommen hatte. Sie hatte ihren eigenen auf dem Dachboden des Manors zurückgelassen. Nicht dass er Essbares enthalten hätte.
Da kannst du im Moment nichts machen , dachte sie. Schnall den Gürtel enger und geh weiter.
Sie konnte nur hoffen, dass sie auf dem Weg durch den Wald auf eine essbare Pflanze traf. Sie war kein Naturexperte, kannte aber die meisten Pflanzen, die sie im Wald finden konnte.
Ja, in England, du Genie. Finde erst mal heraus wo du bist.
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