Cassandra musste sich nicht lange fragen, wozu diese Lichtung geschlagen worden war, weil links hinter ihr die Fassade des Westcott Manor emporragte. Es war sein Platz. Sein Hof. Anders als in Brickrow war das Manor hier nicht eingesunken und schmutzig. Es stand gerade und sauber da, als wäre es gerade gebaut worden.
Und es grinste böse.
Es konnte grinsen, weil es auf dieser Seite, wo auch immer das sein mochte, einen Mund hatte. An der Stelle, wo die Eingangstür sein sollte, befand sich im Türrahmen eine rosafarbene Obszönität. Ein mannshohes Arschloch.
Cassandra hatte weder genug Kraft zu lachen, noch sich zu fürchten. Sie betrachtete das verkniffene, aber wollüstig arbeitende Loch, und nur ein ferner Ekel stieg in ihr hoch. Die lange Furche im Laub, die von dieser Anus- Tür ins Laub führte, verriet Cassandra mehr als sie zu erfahren gehofft hatte: Sie saß ihrem eigenen Geburtsloch gegenüber.
Sie wandte sich ab, bevor ihr Magen sich anschicken konnte überzuschwappen. Wenigstens roch die Luft sauber. Es half, den Brechreiz unter Kontrolle zu bekommen. Sie würde sich nicht erbrechen. Noch nicht.
Sie blieb sitzen und überlegte, was zu tun war. Sie musste ihre Gedanken sammeln und zusehen, dass sie etwas über ihre Lage herausfand.
Fangen wir an.
Ich sitze in einem Birkenwald. Das ist nicht Brickrow. Das Manor steht hier, ich bin sicher, dass es dasselbe Haus ist, nur bin ich jetzt auf der anderen Seite. Ich sollte herausfinden, wo das ist.
Sie erhob sich und bog den Rücken durch. Dabei stöhnte sie wie ein brunftiger Hirsch.
Oh Himmel, ich fühle mich kräftiger als zuvor. Mir tut alles weh, aber ich fühle mich gesund.
Hinter ihr kicherte das Haus. Cassandra wandte sich um, bereit jedem Schrecken ins Gesicht zu sehen, mit dem das Manor aufwarten konnte, aber es geschah nichts. Nur das obszöne Arschloch arbeitete malmend.
“Was gibt es da zu lachen?”
Du hast mich getötet, du Scheißhaufen!, dachte sie. Und Nick hast du auch getötet!
Oh Gott, Nick!
Wenn sie den Transit überlebt hatte, dann hatte Nick das wahrscheinlich auch. Sie musste ihn finden, bevor sie darüber nachdenken konnte, wie sie wieder nach Hause kam.
“Wo ist Nick?”, brüllte sie das Loch an. “Sag mir, was du mit ihm gemacht hast!”
Das Haus lachte sie aus. Man konnte es nicht hören, aber man konnte es fühlen, so wie die Druckwelle einer ausklingenden Explosion.
Cassandra sah sich nach einer Waffe um. Zwischen dem Haus und dem Waldrand waren etwa zwanzig Meter baumfreie Fläche, die sie absuchte, indem sie von einem nichtssagenden Punkt zum nächsten lief, ohne etwas zu finden, dass gefährlicher war als ein abgebrochener Ast. Unbewusst hoffte Cassandra, die Holzfälleraxt zu finden, mit der diese Lichtung geschlagen worden war, aber wenn es nicht anders ging, würde sie eben den Ast nehmen. Sie griff sich das krumme Stück Holz, das etwa die Länge ihres Armes hatte, und marschierte zur rosafarbenen Anus-Tür. Dabei hätte sie über ihr Vorhaben beinahe gelacht. Mit beiden Händen schwang sie den Ast zur Seite und schlug mit der gleichmäßigen Bewegung eines Baseballspielers zu. Ihre verkaterten, kräftigen Muskeln sorgten für einen heftigen Treffer, der den Ast in tausend Stücke zerspringen ließ, doch das Fleisch, aus dem die Anus-Tür gemacht war, trotzte dem Schlag ohne zu zucken. Fest und ledern hätten die dicken Falten eine Gewehrkugel stoppen können.
Enttäuscht ließ Cassandra den Aststumpf fallen. Ohne Zögern sah sie sich nach etwas Stabilerem um, das sie als Waffe verwenden konnte. Sie bückte sich und hob ein paar kleine, gipsartige Steinchen auf. Damit warf sie nach dem Haus. Sie zielte auf die Anus- Tür und dann auf die Fenster, aber weder das eine, noch das andere gab nach. Die Steinchen prallten zurück.
Was konnte sie nur tun? Sie hatte nicht genug Mut, zu versuchen, durch eines der Fenster zu steigen. Selbst für Nick nicht. Sie wollte nach ihm suchen, aber bei Gott, sie würde niemals wieder dieses Haus betreten.
Und wenn das der einzige Weg zurück ist?
Wieder kicherte das Haus, und diesmal geschah etwas. Eines der Fenster oben am rechten Türmchen kippte einen spaltbreit nach vorne. Überrascht blickte Cassandra hoch, in der Hoffnung, dass Nick das Fenster geöffnet hatte. Doch soweit sie sehen konnte, stand niemand dahinter. Es bog sich von alleine nach außen. Cassandra verstand nicht, was für ein Witz das sein sollte. Und als sie nicht weiter reagierte, ließ das Haus das Fenster wippen.
“Wenn das eine Einladung sein soll, trete ich dir in den Arsch!”, brüllte Cassandra. “Und das kannst du wörtlich nehmen!”
Das Haus kippte das Fenster noch ein Stück weiter, entgegen der baulichen Struktur. Es kippte das Fenster so, dass es die Sonne direkt in Cassandras Gesicht reflektierte, und sie zwang, die Augen abzuschirmen. Der Lichtstrahl der Sonne wanderte nach unten über Cassandras Brust und die Hosenbeine. Sie folgte ihm mit dem Blick. Der helle Lichtpunkt wanderte über ihre Schuhe und hoch über das Herbstlaub zum Rand des Waldes. Dort verharrte er.
“Ist Nick dort entlanggelaufen?”
Das Fenster nickte. Der Lichtpunkt tanzte im Laub.
Misstrauisch lief Cassandra zu dem Leuchtpunkt am Waldrand. Er bewegte sich nicht mehr. Sie trat seitlich heran, um ihn nicht mit ihrem Körper zu verdecken. Ein goldener Gegenstand glänzte im Laub. Cassandra griff danach und holte die Verpackung eines Schokoriegels zwischen den Blättern hervor. Nick aß diese Riegel. Die Glitzerfolie hatte er hier fallengelassen.
Ein Fünkchen Hoffnung stieg in Cassandra auf. Wenn das kein Trick des Manors war, dann hatte Nick hier gegessen, bevor er in den Wald gelaufen war.
Nur eine Sache wunderte Cassandra.
Nick wird genau wie ich hierher geboren. Er hat Schmerzen. Ist verwirrt. Er fragt sich, wo ich bin. Das tut er doch, oder? Er sucht nach mir, aber vorher stopft er sich mit Schokoriegeln voll? Ich weiß nicht...
Konnte das eine falsche Fährte sein? Aber wer sollte sie gelegt haben? Zu welchem Zweck?
Oder es gab eine andere Erklärung. Eine, die Cassandra weit mehr beunruhigte.
Wie lange hat Nick nach mir gesucht? Stunden? Tage? - bevor er beschlossen hatte, alleine weiterzugehen? Hatte er gehungert? Wie viele Schokoriegel hatte er dabei? Wie lange konnte er sie rationieren? Dieser Wald sieht nicht so aus, als hätte er viel Nahrung zu bieten.
Cassandra warf die Goldfolie weg und ging zum Haus zurück.
“Wie viel Zeit ist vergangen?”, fragte sie das Haus.
Es antwortete nicht.
“Wo ist Nick jetzt?”, fragte sie.
Keine Antwort. Das Haus schwieg.
“Ach, fick dich doch selbst!”
Sie hatte so dermaßen die Schnauze voll von diesem Lachenden Haus. Sie ließ alle Hoffnung auf Hilfe fahren und gestand sich ein, dass sie Nick alleine finden musste. Vielleicht war er noch in der Nähe. Soweit Cassandra ihn einschätzte, war er intelligent genug, sich nicht so weit vom Manor zu entfernen, dass er sich im Wald verlief. Sollte er ähnlich denken wie sie, würde er zuerst um die Lichtung herum wandern, um die Gegend zu erkunden. Zumindest hoffte das Cassandra.
Sie lief in Richtung Waldrand und hatte das Westcott Manor schon vergessen, als das Haus plötzlich hinter ihr rülpste. Cassandra sah sich um, und erkannte, dass der große runde Anus etwas ausgespien hatte. Vor ihm auf dem Boden lag das nutzlose Wetzeisen mit dem billigen Plastikgriff. Mit seiner stumpfen Klinge wirkte es matt und nicht im Geringsten potent.
“Oh danke, wie großzügig!”, spottete Cassandra. “Wie wär´s, wenn du mir stattdessen ein Gewehr herbeizauberst?”
Das Manor kicherte. Ein letzter Scherz vor dem Abschied.
Cassandra nahm das Wetzeisen, wandte sich ein letztes Mal vom Manor ab und ging Nick suchen. Das Wetzeisen steckte sie in die Jackentasche, die tief genug war, dass nur der schwarze Plastikgriff herausragte.
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