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In Agniste, dem Ort am südlichsten Zipfel, hatte ich ein Zimmer bei ehemaligen deutschen Aussteiger*innen. Sie lebten mittlerweile in einem mittelgroßen Wohnhaus, und was aussah wie eine hölzerne Badehütte, in der sie wohl in den 80er Jahren ihre Ferien verbracht hatten, vermieteten sie jetzt an Tourist*innen. Der Atlantik war wunderbar malerisch, hatte aber auch etwas Bedrohliches. Am äußersten Zipfel der äußersten Insel war das Gefühl, wie auf einem Schiff dem Ozean direkt ausgeliefert zu sein.
Der kleine Sandstrand befand sich auch in respektvoller Entfernung von den Wellengängen des Atlantiks – durch die lange Kaimauer des Hafens vom Ozean weitgehend getrennt und zusätzlich noch hinter der Ankerstelle für die kleinen Fischerboote gelegen.
Mittags war es in der Sonne noch richtig heiß. Ich hatte mich für ein paar Minuten in den Sand gelegt, um mich richtig aufzuheizen, bevor ich ins Wasser ging. Zwei kleine Mädchen liefen an mir vorbei. Sie waren vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt und mussten hier drei kleinere Kinder betreuen. Sie schienen Übung darin zu haben, hielten die drei Kleinen nur von wirklich gefährlichen Unternehmungen ab und ließen ihnen ansonsten ihre Freiheiten. Die Eltern waren nicht zu sehen. In den Felsen etwas weiter oben waren aber einige Plätze mit Liegestühlen eingerichtet und es war gut möglich, dass die Erwachsenen ihre Kinder von dort aus im Auge hatten.
Ich hielt es in der heißen Sonne nicht mehr aus. Ein wenig benommen stand ich auf und ging in Richtung Meer. Das Wasser war angenehm kühl, der Boden nicht steil abfallend, aber mit ein paar kräftigen Schritten landete ich bald in etwas tieferem Wasser und sobald es mir über die Badehose auf den Bauch schwappte, ließ ich mich nach vorne gleiten und begann zu schwimmen. Der schönste Moment: den überhitzten Kopf ins kühle Wasser, mit geschlossenen Augen ein paar Tempi zu tauchen. Die Benommenheit war gänzlich verflogen. Ich kraulte so schnell ich konnte, nach ein paar Minuten war ich völlig erschöpft. Ich drehte mich auf den Rücken, streckte die Hände seitlich aus, Handflächen nach oben. Ich bog den Rücken ein wenig durch und legte den Kopf etwas zurück. Ganz langsame Bewegungen mit den Füßen genügten, um nicht unterzugehen. Das Wasser ging über die Ohren, zu hören nur das gedämpfte Grundrauschen des Ozeans.
*
Ich drifte. Am Anfang hatte es mich nicht weiter beunruhigt, dass ich aufgewacht war ohne irgendwelche Anhaltspunkte in Zeit und Raum, oder in meinem Leben. Und dann war ja auch sehr bald diese Erinnerung aufgetaucht, an den nächtlichen Diebstahl, die Bedrohung, den Nachbarn mit der Peitsche. Aber das hatte sich nicht weiter verdichtet und das anfängliche Gefühl, Boden unter den Füßen zu gewinnen, war sehr schnell gewissen Zweifeln gewichen. Und einiges war eigenartig an meiner Situation: gar nichts sehen zu können im Dunkel, nicht mal die eigene Hand vor Augen. Und dieses ständige Gefühl, eben nicht am nächtlichen Strand zu liegen, auf einem festen Sandboden, sondern zu schweben oder zu fliegen.
Und ich nichts Besseres zu tun, als mich in dieser Geschichte zu verfangen. Su war der Anhaltspunkt gewesen, der Grund, warum ich hierher zurückging in meiner Erinnerung. Alles andere – fast schon an dem Punkt zu sein, mich erinnern zu können, was ich in den letzten Tagen gemacht habe und wo ich bin – ist wieder verflogen, wie in Nichts aufgelöst.
Gut, ich beruhige mich schon wieder. Das ist jedenfalls bemerkenswert, dass ich sehr entspannt bin, seit ich hier aufgewacht bin. Es gäbe genügend Anlässe, aus denen ich früher in Panik verfallen wäre – die undurchdringliche Dunkelheit; dass ich mich bis jetzt noch nicht aufgerafft habe, meine Hände zu bewegen; das Gefühl manchmal beim Atmen, dass nur wenige Zentimeter von meinem Mund entfernt etwas ist, an dem mein Atem abprallt und dann wieder auf meinem Gesicht zu spüren ist. Aber dann, immer wenn ich beginne, mir darüber Gedanken zu machen, tritt doch vorher ein Gefühl totaler körperlicher Entspannung ein, dem bessere Laune und mehr Optimismus folgen. Und es gibt ohnehin keinen anderen Weg, als dieser Geschichte weiter zu folgen, und irgendwann, hoffentlich sehr bald, führt sie mich zu Su.
*
Das Dorf, in dem ich hier gelandet war, stellte sich recht bald als sehr langweilig heraus. Es hatte wohl einen Ruf als Taucher*innenparadies und war entsprechend mit Sauerstoffflaschen schleppenden Leuten in schwarzen Gummianzügen bevölkert. Mehr Sport als Gesellschaftsleben, überall Fachdiskussionen, und so hatte ich es wohl wieder mal geschafft, nicht weit weg vom Highlife einer großen Urlaubsregion an einem Ort zu landen, der für einen Single keine wie immer gearteten Anschlussmöglichkeiten bot. Auch waren die Tage schon kürzer und die früh einbrechende Dunkelheit versetzte mich vollends in eine melancholische Stimmung.
Nur an einem Abend wurde die Tristesse durchbrochen. Schon am Nachmittag war im gesamten Dorf der Strom ausgefallen. Die Vermutung war, dass es im regionalen Umspannwerk ein Problem gab, man wusste nichts Genaues und das Gerücht begann die Runde zu machen, dass es auch durchaus 24 Stunden dauern könne, bis wieder Strom da sei. Mit nahendem Einbruch der Dunkelheit war eine zunehmende leichte Spannung zu spüren.
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Es waren ungewöhnlich viele Leute auf der Straße. Einige wollten wohl nicht gleich den ganzen Abend zu Hause bzw. in ihren Zimmern oder Apartments bleiben mit der Aussicht, die ganze Zeit im Dunkeln oder bestenfalls im Kerzenschein zu sitzen. Die Öffentlichkeit hatte in dieser Situation aber auch etwas Anziehendes, man fühlte sich in der Menge irgendwie doch sicherer. Es gab ja nicht wirklich Gefahr, aber man konnte ein wenig sehen, wie die anderen mit der Situation umgingen, und vielleicht gab es ja auch neue Informationen.
Die kleinen Gasthäuser und Restaurants hatten sich schon auf die Situation eingestellt – alle Kerzen zusammengetragen, die sie kriegen konnten, die Getränke in kaltem Wasser so gut wie möglich gekühlt, eine einfache Fischsuppe oder ein kleines Fleischgericht am Propangasherd zubereitet.
Die aus den Gasthäusern scheinende Kerzenbeleuchtung war auch die einzige Lichtquelle in den Gassen. Die Atmosphäre hatte etwas Gespenstisches, weil einerseits alle Leute auf der Straße waren, als wäre heute der wichtigste Festtag des Jahres. Gleichzeitig war es sehr ruhig, weil alle sehr bedächtig gingen, um nicht im fast vollständigen Dunkel über eine kleine Unebenheit oder über einen der ansonsten den Straßenrand säumenden Gegenstände – von kleinen Tischchen, Sesseln für die Siesta im Schatten bis zu Maurerkübeln – zu stolpern.
Ich hatte mir in einer Bar eine Flasche Bier gekauft, für eine Weile die Leute beobachtet und ging nun etwas in Gedanken versunken und gleichzeitig langsam und vorsichtig in Richtung der kleinen Strandpromenade, die eigentlich nur ein Sträßchen war, an dem es ein Gasthaus und zwei kleine Cafés gab.
Ich hatte den Stromausfall bemerkt, als ich am späteren Nachmittag vom Strand zurück in mein Zimmer kam und mein Mobiltelefon – meine einzige Uhr – an das Ladegerät anschloss, bevor ich in die hinter dem Kasten etwas versteckte improvisierte Dusche stieg. Ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass das zu so einem kleinen Ausnahmezustand führen könnte, und erinnerte mich erst langsam wieder daran, als ich mich beim Spaziergang durchs Dorf wunderte, dass die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet wurde, und ich die ersten nur durch Kerzen beleuchteten Gasthäuser sah. Das Gerücht mit den 24 Stunden, das ich bald darauf aus der Unterhaltung eines englischen Tourist*innenpaares aufschnappte, beunruhigte mich dann ein wenig. Falls die Dunkelheit wirklich die Nacht über andauerte, wusste ich nicht recht, wie ich zurück in mein Zimmer kommen und dort zu Bett gehen könnte. Ich hatte mich nicht rechtzeitig darum gekümmert und es sah auch nicht so aus, als ob man im Dorf noch irgendwo eine Taschenlampe oder andere windsichere Lichtquelle bekommen konnte. Der Weg zurück führte in einem Bogen am kleinen Sandstrand vorbei und ich hatte in den zwei Tagen, die ich jetzt hier war, nach dem Strand immer eine Abkürzung über ein paar Felsen genommen und konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo der ebene Weg verlief. Wenn ich das mit Hilfe des sehr matten Mondlichts schaffte, hatte ich auch im Zimmer dann kein Licht, und mein Verhältnis zu den Vermieter*innen war auf ein wenig Smalltalk bei der Anmeldung beschränkt geblieben und nicht wirklich die Voraussetzung, um sie in der Nacht zu wecken und nach einer Taschenlampe zu fragen. Sollte ich doch für die alte Holzhütte eine Kerze klauen?
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