Und dann war da noch diese wahnsinnige Müdigkeit, die mich fertig machte. So energielos und lustlos kannte ich mich nicht. Irgendetwas war wirklich nicht in Ordnung. So konnte es nicht weitergehen. So konnte ich nicht weitermachen. So wollte ich nicht weiterleben. Ich begann zu begreifen, dass sich etwas ändern musste. Offensichtlich hatte ich wirklich ein Problem.
Aber wie würde es jetzt weitergehen? Was sollte ich nur tun? Was kam jetzt auf mich zu? Würde ich wieder zu meinem alten ICH und meinen alten Kräften zurückfinden? Ich fühlte erneut Panik in mir aufsteigen, meine Kehle wurde eng und meine Augen füllten sich schon wieder. Verzweifelt und hilflos ließ ich den Tränen freien Lauf. Ich ließ es einfach geschehen. Ich weinte hemmungslos bis irgendwann der Tränenfluss von allein versiegte und ich ganz allmählich wieder zur Ruhe kam.
Dann putzte ich mir ein letztes Mal gründlich die Nase und richtete mich mit einem tiefen Seufzer ganz gerade auf. Ein neuer Gedanke machte sich in mir breit: Okay, ich hatte ein ‚Problem’, ich hatte sogar eine ärztliche Bestätigung dafür. Doch mein ‚Problem’ wurde bereits von Fachleuten analysiert. Physische Ursachen würde man entweder ausschließen oder behandeln können. Höchst wahrscheinlich würde ich mich mit den Themen Erschöpfung, Depression und dem Begriff ‚Burnout’ auseinandersetzen müssen. Aber ich war mit meinem Problem nicht mehr alleine. Es gab fachkundige Menschen, die mir helfen konnten. Ich durfte mich jetzt fallen lassen. Ich musste nicht mehr stark sein um mich und andere zu schützen.
Nachdem ich sowohl meinen Chef als auch meine Mitarbeiter über die vorläufige Krankmeldung informiert hatte, schaffte ich es tatsächlich, meinen Laptop nicht mehr zu öffnen. Ich schaltete sogar mein Smartphone aus. Es kostete mich einiges an Überwindung mich wirklich aktiv aus dem beruflichen Geschehen auszuklinken. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Wichtige Projekte waren am Start um die ich mich kümmern musste. Die vereinbarten Deadlines bereitetes mir Sorgen, denn in meinem Team gab es niemanden, der sich dieser Dinge annehmen konnte. Außerdem war da noch mein Vorgesetzter, dessen Verhalten von Tag zu Tag merkwürdiger wurde... Aber momentan war ich nicht in der Verfassung, mich auch noch mit Themen im Job zu befassen. Zuerst musste ich wissen, was mit mir los war.
Ich verbrachte den größten Teil der restlichen Woche bei Ärzten oder in deren Wartezimmern, um die von Frau Dr. Weiss angeordneten Untersuchungen durchführen zu lassen. Zwischen diesen Terminen war ich zuhause. Zeitweise wanderte ich unruhig und planlos durch die Räume, Radio und Fernsehgerät blieben ausgeschaltet und Bücher blieben geschlossen. Dann wieder saß ich stundenlang reglos in einem Sessel oder am Tisch und starrte leer vor mich hin. Nur sehr selten gelang es mir, meine Gedanken einigermaßen zu sortieren um wirklich nachdenken zu können. Erschöpfungsdepression. Burnout. Was bedeutete das? Mein Gehirn arbeitete beinahe unablässig, doch ich konnte meine eigenen Gedanken oft nur wie durch einen dicken Schleier wahrnehmen. Noch nicht einmal zu mir selbst konnte ich wirklich durchdringen. Ich war mir beinahe fremd geworden. Und ich fühlte mich leer und unendlich müde. Erschöpfung. Schlafmangel. Die pflanzlichen Tropfen von Frau Dr. Weiss hatten leider noch keine Wirkung gezeigt. Nach wie vor schleppte ich mich durch den Tag und sank abends völlig erschöpft ins Bett nur um mich am nächsten Morgen nach einer unruhigen Nacht erneut todmüde zu erheben.
Der erste Termin bei der Psychologin. Meine Nervosität stieg. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde und war daher ziemlich skeptisch. Gleichzeitig hoffte ich auf Hilfe für mein Problem.
Im Vorzimmer einer hellen und freundlichen Praxis musste ich noch etwas warten. Aus dem Sprechzimmer drangen leise Stimmen. Auf einem kleinen Beistelltisch türmte sich ein interessanter Mix aus aktuellen Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazinen zusammen mit einigen Fachzeitschriften der Psychologie. Nach einer Weile öffnete sich die Tür hinter der ich das Sprechzimmer vermutete und ein durchaus normal aussehender Herr trat heraus. Er nickte mir kurz zu, griff nach seinem Mantel und verschwand durch die Praxistür nach draußen. Ich musste innerlich über mich selbst lachen, als ich meine Erleichterung bemerkte. Offenbar war ich doch nicht frei von Vorurteilen gegenüber Patienten einer psychotherapeutischen Praxis.
Beruhigt konnte ich dann feststellen, dass Frau Dr. Katrin Hansen eine sympathisch wirkende, modisch gekleidete Frau war. Freundlich begrüßte sie mich und bat mich in ihr frisch gelüftetes Sprechzimmer. Keine Couch! Ich atmete insgeheim ein weiteres Mal auf. Nur eine Untersuchungsliege mit hellem Lederbezug, wie man sie in vielen Sprechzimmern finden konnte, stand an einer Wand. Frau Dr. Hansen ging um ihren Schreibtisch herum und deutete auf einen bequemen Stuhl ihr gegenüber. Der Kunstdruck eines modernen Gemäldes und ein farblich passender Tulpenstrauß rundeten das angenehme Bild ab.
Meine anfängliche Nervosität hatte etwas nachgelassen. Doch als Dr. Hansen sich nach meinem Befinden erkundigte, schnürten aufsteigende Tränen erneut meine Kehle zu. Mist! War ich überhaupt nicht mehr in der Lage, nüchtern über ein Problem – über mein Problem – zu sprechen? Ich berichtet, dass ich mich seit einer Woche in diesem tränenreichen Zustand befand ohne zu wissen weshalb. Es sei sonst nicht meine Art mich weinend fremden Leuten zu erklären. Die Ärztin stellte mir einige Fragen. Sie erkundigte sich nach meiner aktuellen beruflichen und familiären Situation und nach meiner persönlichen Geschichte. Im Anschluss an die ausführliche Anamnese und unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse, die Frau Dr. Weiss in der Zwischenzeit bereits geschickt haben musste, konnte Dr. Hansen die vermutete Diagnose der Kollegin bestätigen. Also doch. Erschöpfungsdepression. Burnout. Besondere Bedeutung maß auch sie der Tatsache bei, dass ich seit Monaten keinen erholsamen Schlaf finden konnte. Auf die Frage, ob die Kollegin mir bereits ein Medikament verschrieben hätte, holte ich die Tropfen aus meiner Handtasche hervor.
„Oh, die sind aber sehr natürlich“, rief die Ärztin aus. „Haben diese Tropfen etwas verändert? Können Sie nun besser schlafen?“
„Nein, ich habe bisher noch keine Änderung bemerkt.“
„Dann sollten wir in ihrer Situation anders vorgehen. Ich schreibe Ihnen folgendes Mittel auf. Bitte erschrecken Sie nicht über die Information auf dem Beipackzettel. Sie werden nur einen Bruchteil der hier empfohlenen Dosis einnehmen. Haben Sie bereits Erfahrung mit der Einnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln?“
„Nein. Ehrlich gesagt habe ich Bedenken, sie zu nehmen.“
„Das brauchen Sie nicht. Wir müssen Sie zum Schlafen bringen. Dazu braucht Ihr Körper eine Anschubhilfe.“
Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit mir nun weitergehen sollte.
„Frau Hansen, meine Krankschreibung läuft heute aus. Soll ich am Montag wieder ins Büro gehen?“
Ich bemerkte, dass mein Herz schneller zu klopfen begann. Schon die Vorstellung bereitete mir körperliches Unbehagen. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich den Atem anhielt.
„Nein, das empfehle ich überhaupt nicht. Ich gehe nicht davon aus, dass eine Rückkehr an Ihren Arbeitsplatz kurzfristig möglich sein wird. Meine Kollegin wird Ihre Krankmeldung am Montag verlängern und die nächsten Schritte den physischen Teil betreffend mit Ihnen besprechen. Wir beide werden uns um die psychische Seite Ihres Problems kümmern!“ Mit Nachdruck fuhr sie fort: „In dieser Verfassung können Sie auf keinen Fall arbeiten gehen. Wir müssen ihren Körper dazu bringen, sich zu erholen und Ihren Geist dazu, abschalten zu können. Damit uns das gelingt, müssen wir verstehen, was oder welche Umstände Sie in diese Lage gebracht haben.“
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