„Nein...“
„Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie an einen kompetenten Kollegen überweise, der uns helfen wird, schnell zu einer Diagnose zu kommen?“
„Ja, natürlich.“ Ich war verwirrt. Psychologe?
„Es wird allerdings nicht leicht sein, so kurzfristig einen Termin zu bekommen. Doch lassen Sie mich mal überlegen... Ziehen Sie eine Dame oder einen Herrn vor?“
„Mir wäre es lieber, mit einer Frau sprechen zu können.“
„Gut. Am liebsten würde ich Sie zu Frau Dr. Hansen schicken. Ich rufe sofort an... wenn ich das persönlich mache, tut sie mir vielleicht den Gefallen. Wir kennen uns von gemeinsamen Fortbildungen her.“
Sie griff zum Telefon und begann eine Nummer zu wählen. Ich hörte dem Gespräch nicht zu. Meine Gedanken schweiften ab. Was hatte Frau Dr. Weiss gesagt? Burnout. Depression. Bei der aktuellen Präsenz in den Medien hatte ich natürlich einiges darüber gelesen oder gehört. Und jetzt sollte ich davon betroffen sein? Das konnte nicht sein. Irgendwie passte das gar nicht zu meinem Selbstbild von einer starken erfolgreichen Karrierefrau und Mutter... Doch ich konnte meinen Gedankengang nicht weiter verfolgen. Denken fiel so schwer. Sich zu konzentrieren kostete unendlich viel Kraft... Frau Dr. Weiss hatte den Hörer aufgelegt und lächelte mich an.
„Freitag um zehn Uhr hat Frau Dr. Hansen noch einen Termin frei. Hier sind ihre Kontaktdaten.“ Sie reichte mir eine Visitenkarte.
„Danke. Wie geht es dann weiter?“
„Nun, Sie werden diese Woche nicht arbeiten. Sie bleiben zuhause. Ich möchte Sie bitten, sich nicht mit beruflichen Themen zu beschäftigen. Schalten Sie Laptop und Telefon aus. Kümmern Sie sich nur um sich selbst.“
Ich nickte zögerlich.
„Ich habe bereits angewiesen, hier in der Praxis verschiedene Termine für Sie zu reservieren um die noch fehlenden Tests durchzuführen. Bei meinen beiden Kollegen hier vereinbaren Sie bitte jeweils Termine für diese Untersuchungen hier.“ Sie gab mir zwei Überweisungsscheine. „Meine Damen am Empfang werden Ihnen die Liste der Untersuchungstermine aushändigen.“
„Danke.“ Mechanisch steckte ich die Unterlagen ein.
„Das Ziel für diese Woche sollte sein, alle Untersuchungen abzuschließen. Dann haben wir Anfang nächster Woche die nötigen Befunde und können mögliche physische Ursachen feststellen oder auszuschließen. Außerdem müssen wir dringend Ihre Schlaflosigkeit in den Griff bekommen. Ich verschreibe Ihnen diese Tropfen, die sie bitte wie folgt einnehmen werden.“ Sie schrieb die Formel auf das Rezept.
„Ein Schlafmittel? Muss das sein? Ich würde lieber ohne...“
„Diese Tropfen sind auf pflanzlicher Basis und absolut harmlos. Versuchen wir es erst einmal damit, Ihnen dabei zu helfen wieder erholsamen Schlaf zu finden.“ Als sie jedoch mein Zögern bemerkte, fuhr die Ärztin mit Nachdruck fort: „Ihr Körper streikt! Er muss sich regenerieren. Schlafen zu können ist eine wichtige Voraussetzung. Ich rate Ihnen dringend abzuschalten und zu entspannen!“
„Aber wie macht man das...?“
„Das müssen Sie für sich herausfinden. Jeder Mensch ist anders und entspannt oder regeneriert auf unterschiedliche Weise. Sie müssen selbst herausfinden, was für Sie und Ihren Körper gut ist. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich darum zu kümmern. Es ist essentiell für Ihre Gesundheit. Sehen Sie zu, dass sie runterkommen und abschalten können. Entspannen Sie sich und lernen Sie wieder zu schlafen!“ Frau Dr. Weiss lächelte mich an. „Kein Stress, kein Druck. Versprochen? Halten Sie bitte den Untersuchungsplan ein und nehmen Sie die Termine bei den Kollegen wahr. Am Freitag haben Sie ihre erste Sitzung bei Dr. Hansen und am kommenden Montag sehen wir uns zur Besprechung der Ergebnisse wieder hier. Natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, wenn Sie Fragen haben!“ Sie streckte mir die Hand entgegen. „Hier ist Ihre Krankmeldung. Bitte halten Sie sich an meine Empfehlung. Gehen Sie raus in die Natur, genießen Sie die Sonne und lassen Sie es sich gut gehen! Alles Gute!“
„Auf Wiedersehen, Frau Doktor.“
Ich verließ das Sprechzimmer. Am Empfang erhielt ich die versprochenen Unterlagen und dann trat ich durch die Praxistür ins Freie. Wie in Trance bewegte ich mich zu meinem Auto. Das nächste, was ich bewusst registrierte, war, dass ich mich in der Garage ihres Hauses befand. Wie war ich dorthin gekommen war? Ein beunruhigendes Gefühl. Ich zog den Schlüssel ab, stieg aus und betrat das Haus. Drinnen schaute ich mich um und setzte mich schließlich an den Esstisch. Ich fühlte mich fremd im eigenen Haus und sogar im eigenen Körper.
Erschöpfung... Depression... Burnout... Psychologe... Abschalten... Runterkommen... Entspannen... Was jetzt?
Ich griff zum Telefon und wählte Christians Mobilnummer. Er antwortete sofort.
„Hallo mein Schatz! Gut das du anrufst, ich war schon ganz unruhig. Was hat Frau Dr. Weiss gesagt?“
Ich erzählte ihm von der vorläufigen Diagnose, von den bevorstehenden Untersuchungen und dem Termin bei der Psychologin. Wieder konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. So etwas Dummes, ich war doch sonst nicht so eine Heulsuse. Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Stille.
„Hm. Ich hatte vermutet, dass Vitamin- oder Eisenmangel hinter deiner Energielosigkeit und Dauermüdigkeit stecken. Aber Erschöpfung und Burnout...? Was kann man da machen?“
Ich bemerkte Christians Unsicherheit und hörte auch den sorgenvollen Klang seiner Stimme.„Ich weiß es auch noch nicht. Ich denke, wir müssen das Gespräch mit der Psychologin und die finale Diagnose abwarten.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Dann warten wir eben die Untersuchungsergebnisse ab. Aber du siehst bitte zu, dass du in dieser Woche wirklich abschaltest und nichts tust. Hör auf deine Ärztin und lass den Computer aus. Stell dein Smartphone ab, hörst du? Lass’ mal alle Fünfe gerade sein.“
„Weißt du, ich glaube, dass ist gerade mein Problem. Ich meine, Fünfe mal gerade sein zu lassen...“
„Gerade deswegen sollst du es ja machen.“
„Wenn ich nur wüsste, wie das geht...“
„Das wirst du schon herausfinden. So schwer kann das doch nicht sein. Genieße deine freie Woche und nutze die Zeit für dich. Mach was Schönes. Oder mach einfach mal gar nichts.“
„Ich glaube, das habe ich noch nie gemacht.“
„Dann wird es wirklich Zeit, dass du damit anfängst. Du bist doch stark, du schaffst das schon. Du bist schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden. Außerdem hast du doch noch mich! Ich helfe dir!“
„Danke. Ich weiß momentan nur, dass sich etwas ändern muss. Ich muss auch erst einmal verarbeiten, was ich eben gehört habe. Lass uns heute Abend noch mal telefonieren, okay?“
Wir verabschiedeten uns und legten auf. Nachdenklich blieb ich am Tisch sitzen.
Ich, die Powerfrau, die immer alle Aufgaben bewältigen konnte, die jahrelang mit ihrem Sohn alleine im Ausland gelebt und gearbeitet hatte. Ich, die verantwortungsvolle Positionen in internationalen Unternehmen bekleidete und ganz nebenbei auch noch eine fünfköpfige Patchwork-Familie inklusive Wochenendbeziehung und pubertären Teilzeit-Kids managte. Ich sollte auf einmal nicht mehr in der Lage sein, das alles zu schaffen? Warum denn nicht?
Dann dachte ich an die Mahnungen von Christian und meinen Eltern: Abschalten und mehr an mich denken. Auch Frau Dr. Weiss hatte mir dringend dazu geraten. Abschalten. Ich wusste wirklich nicht, wie man abschaltete. Wenn mich ein Thema beschäftigte, dann ließ es mich selten los. Oft galt ihm mein letzter Gedanke am Abend vor dem Einschlafen, dann träumte ich manchmal sogar davon und am nächsten Morgen war es sofort wieder präsent.
Wenn ich allerdings früher in die Welt eines Buches eingetaucht war, dann hatte ich alles um mich herum vergessen können. War das der Zustand den man mit ‚abschalten’ meinte? Doch bereits seit einer gefühlten Ewigkeit hatte ich kein Buch mehr gelesen. Selten konnte ich mich mehr als eine halbe Seite lang konzentrieren. Oft bemerkte ich erst am Ende eines Kapitels, dass meine Augen nur mechanisch den Zeilen gefolgt und meine Hände nur automatisch Seite um Seite weitergeblättert hatten. Doch der Inhalt des Textes oder dessen Bedeutung war nie wirklich in meinen Verstand vorgedrungen.
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