Nach einigem Warten und der Einreiseprozedur trat Gian mit seinem grossen Koffer, den ihm Jakob geliehen hatte, in die Ankunftshalle. Er sah Sophie schon von weitem, sie hatte ihn noch nicht entdeckt. «Hübsch ist sie geworden», fiel Gian auf. Dann trafen sich ihre Blicke, und Sophie flog auf ihn zu, fiel ihm in die Arme, beinahe hätte sie ihn umgerannt, so heftig fiel ihre Umarmung aus. «He, he, junge Dame, nur nicht so stürmisch.» Gian genoss es sichtlich, mitten im Trubel der Halle Sophie zu umarmen. «Komm.» Sophie zog Gian mit sich. Sie gingen zu ihrem Auto, draussen, auf dem weitläufigen Parkplatz.
Behutsam rollte Sophie zur Ausfahrt, sie fuhren via Arrecife zum Appartement am Meer zurück.
«Hübsch hast du es hier», stellte Gian fest.
«Gefällt’s dir?»
«Hier kann ich es aushalten.» Gian ging spontan ans Meer und überprüfte, ob das Wasser tatsächlich salzig war. Sophie sah ihm lächelnd zu.
«Willst du gleich auspacken oder wollen wir los?»
Noch bevor Gian antworten konnte, schwebte bereits Helga Adhira Hell heran und nahm Gian in Beschlag. Sophie verdrehte die Augen und zuckte resigniert mit den Schultern. Sie stellte Gians Tasche zu Boden. «Das könnte länger gehen», befürchtete sie.
«Hallo, ich bin Helga Adhira Hell, die Nachbarin von Sophie.»
Gian sah sie neugierig an und musterte sie von oben bis unten. Sophie wandte sich ab und schnitt Grimassen.
Gian wollte den Mund öffnen.
«Sind Sie der Vater von Sophie?»
«Nein …»
«Ach, das sieht man doch. Sie haben die gleiche Nase, den gleichen Mund. Schön, dass Sie Ihre Tochter besuchen kommen.»
«Aber Sophie …»
«Sophie ist so eine liebenswerte Person.»
«Ja, Sophie …»
«Wie lange bleiben Sie hier?»
«Ich werde …»
«Ich freue mich auf Sie, und am Abend können wir jeweils zusammen plaudern.»
«Wir können …»
«Nun, ich muss gehen, habe noch eine Verabredung mit einem jungen Mann, war nett, mit Ihnen zu schwatzen.» Helga Adhira Hell verabschiedete sich eilig.
«Sag mal, Sophie, war das das Inselgespenst?» Gian schüttelte nur noch den Kopf. Er mochte diese Frau nicht.
«Das habe ich mich auch schon gefragt. Die Dame stammt aus Hamburg und ist seit gut einem Monat meine Nachbarin. Ich werde sie wohl noch bis im Februar erdulden müssen, sofern ich sie nicht vorher auf den Mond schiesse.» Sophie lachte laut. «Jedenfalls musst du dir nie lang überlegen, was du ihr sagen willst.»
«Das ist ja auch ganz praktisch», fand Gian.
«Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich nie zu Wort kommen werde. Hoffentlich hat sie dich nicht genervt», entschuldigte sich Sophie.
«Die Deutschen sind halt überall», bemerkte Gian lakonisch, der als Skilehrer auch so seine Erfahrungen gesammelt hatte.
«Die Hell ist so auf sich bezogen, wie die das schafft, andere Leute zu beraten?», meinte Sophie nachdenklich.
«Tja, die einen kommen, ohne etwas zu studieren, durchs Leben, und die andern studieren nichts.»
«Komm, ich will dir das Dorf zeigen. Und am Abend gehen wir in eine Beiz. Ich kenne ein paar wenige, in denen man nicht gleich vergiftet wird. Aber Landjäger und Cervelat wirst du hier nicht finden.» Sophie lachte. «Dafür aber einen ausgezeichneten Roten.»
«Das ist schon mal was. Die Hirschenwirtin drohte mir, dass es nur Sangria geben würde.» Gian stimmte in ihr Lachen ein.
«Nach dem Dorfrundgang nehmen wir einen Apéro, denn vor neun wird man in einem Restaurant in Lanzarote nichts zu essen bekommen.»
«Die essen so spät?» Gian war ziemlich erstaunt.
«Ja, ich weiss, du bist es dir gewohnt, spätestens um sechs Uhr zu essen, aber hier ist die Küche um diese Zeit noch geschlossen.»
«Ich werde es sicher überleben. Und jeden Abend gehen wir wohl nicht auswärts essen.»
«Ich glaube kaum, ausser die Hell nervt uns und sitzt uns jeden Abend auf der Haube.» Sophie lachte verschmitzt.
Sophie genoss die Tage, die mit einem gemeinsamen Frühstück begannen. Gian war sichtlich zufrieden, die Zeit flog nur so dahin. Sophie führte Gian auf der Insel herum. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Besonders der Nationalpark Timanfaya mit seiner urtümlichen Landschaft hatte es Gian angetan. Bei den zahlreichen Vulkankegeln und den vielen Lavasteinen blieb Gian immer wieder staunend stehen. Nach ihren Exkursionen blieben sie abends meistens zu Hause, sassen bei einer einfachen Mahlzeit zusammen. Gian mochte mit dem Essen nicht bis neun warten.
Oft war Gian vor Sophie auf den Beinen und machte seinen morgendlichen Spaziergang zum Bäcker.
«Hola Gian», begrüsste ihn Thea, die junge Verkäuferin mit einem Lächeln.
«Hola Thea.»
Er schenkte ihr sein strahlendes Lächeln, und die junge Frau packte ihm die gewünschten Brötchen ein.
«Lassen Sie Sophia grüssen», sagte sie noch.
«Mache ich. Hasta la vista Thea.»
Gian genoss den morgendlichen Spaziergang ins Dorf und freute sich auf das gemeinsame Frühstück mit Sophie. Meist war das Inselgespenst schon weg, sodass sie am Morgen ihre Ruhe hatten.
Denn Helga Adhira Hell entging nichts, was die beiden besprachen, wenn sie im Appartement waren. Sie musste wohl an der Wand lauschen. An einem Abend behauptete Helga Adhira Hell, als sie zu Gian und Sophie auf den Sitzplatz trat:
«Ich bin keine Wahrsagerin, ich bin Astrologin und Tarotfrau, und mit Wahrsagen habe ich nichts am Hut.»
«Aber …» Sie fiel Gian ins Wort.
«Ich bin eine seriöse Astrologin, die weiss, wovon sie spricht. Wollen wir Karten legen?»
«Nein …»
«Ach, ich hole sie gleich, warten Sie einen Moment.» Helga Adhira Hell verschwand in ihrem Appartement.
«Jetzt ist unser Abend dahin», warf Sophie ein.
«Ach was, komm, wir lassen uns die Karten legen.» Gian, der nicht viel von alledem hielt, kicherte wie ein kleiner Gnom.
Helga Adhira Hell kam mit ihrem Set zurück.
«Ziehen Sie eine Karte aus dem Haufen», forderte sie Sophie auf.
Sophie hatte keine Wahl, sie musste eine Karte aus dem Stapel der Tarotkarten ziehen. «Die Liebenden», erklärte Helga Adhira Hell wissend.
«Ach, das ist ja interessant. Sind Sie verliebt? Da gibt es einen Mann in Ihrem Leben, der auf Sie wartet, der Sie verehrt.»
Gian lachte laut. «Ja, ja, es gibt jemanden, der auf Sophie wartet, aber sie will es nicht wahrhaben.»
«Halt, halt, das ist gar nicht wahr.»
«Ach Kindchen, regen Sie sich doch nicht so auf.»
«Ich rege mich gar nicht auf.»
«Nein, nein, sie regt sich nicht auf.» Gian gefiel es, Sophie so in Rage zu sehen.
«Ziehen Sie noch eine Karte.»
Ehe sich Sophie versah, zog sie die nächste Karte – es war «Der Teufel».
«Ihre Gefühle sind verstrickt.»
Helga Adhira Hell sprach für einmal kurz und knapp, und sie sah Sophie einfach nur an. Auch Gian sagte nichts mehr.
«So meine Lieben, jetzt wird es höchste Zeit für mich, ins Bett zu gehen.»
«Gute Nacht», sagten Gian und Sophie wie aus einem Munde.
Sie waren glücklich, den Abend nun für sich zu haben und beschlossen, noch ein paar Schritte zu gehen.
Sie schlichen sich davon. «Man weiss nie», flüsterte Gian, und Sophie kicherte, wie ein kleines Mädchen.
Sophie hatte eine gute Flasche eingepackt und zwei Gläser, sie suchten sich «ihr» Plätzchen am Strand, um einen der letzten Sonnenuntergänge gemeinsam anzusehen. Es gab etwas, das Sophie mit Gian ohne die allgegenwärtigen Ohren von der Hell besprechen wollte.
«Sag mal Gian, wie geht es eigentlich Jakob?» Bis jetzt hatte sie es vermieden, nach Jakob zu fragen.
«Gut, wieso fragst du?» Gian sah Sophie aus seinen pfiffigen Augen an.
«Ach nur so.»
«Ach nur so», äffte er sie nach. Gian amüsierte sich, denn kurz bevor er von Toss abgereist war, hatte Jakob eine ähnliche Frage gestellt.
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