Sie fasziniert mich und andererseits bin ich froh, sie auf Distanz zu halten. Ich finde, sie ist nicht ehrlich.
Aber glücklicherweise gibt es nicht nur seltsame Gestalten hier. Die Landschaft, die Krater, die Lava – es ist wirklich eine spezielle und energetisch aufgeladene Insel. Meine Kamera habe ich immer mit dabei, denn es gibt so viele Motive hier, wenn man von den touristischen Trampelpfaden abweicht. Ich könnte dauernd auf den Auslöser drücken. Wenn das Fotografieren nur nicht so teuer wäre. Jetzt wird die Arbeit etwas weniger, und so werde ich wohl vermehrt auf Fotopirsch gehen können.
Die Bus-Chauffeure sind nett, und ich verstehe mich ausgezeichnet mit ihnen, nein, nicht was du denkst. Sie sind alle verheiratet und haben Familie. Auch César ist nicht zu haben und zudem wäre er zu alt für mich. Ich habe recht gut spanisch gelernt. Übrigens trage ich nun die Haare ganz kurz und knallrot, so sehen mich die Reisenden immer.
Ich freue mich, von dir zu lesen, und bin gespannt, was es bei dir Neues gibt.
Mit lieben Grüssen – Sophie
Als sie fertig war, verpackte sie den Brief liebevoll, und morgen würde sie ihn als Erstes auf die Post bringen.
Sophie suchte sich eine bunte Postkarte aus mit einer Badenixe. Sie dachte an Gian und stellte sich vor, wie er im Hirschen sitzen und ihre Karte stolz herumzeigen würde:
Lieber Gian, mir geht es gut. Ich hoffe, dir geht’s auch gut. Lanzarote würde dir sehr gefallen. Hast du keine Lust, mich zu besuchen? Du hättest ein Bett zur Verfügung in meinem kleinen Appartement, und Martina könnte dir die Reise zusammenstellen. Ist das nicht eine gute Idee?
Mit lieben Grüssen – Sophie
Zufrieden stand sie vor ihrem Appartement und betrachtete den Sternenhimmel. Für einen kurzen Moment hatte sie die Begegnung mit Helga Adhira Hell vergessen.
Es war Spätherbst geworden. Die Tage waren nach wie vor angenehm, und die Nächte waren kühler geworden. Im Briefkasten lagen eine Postkarte von Martina und ein Umschlag mit dem Absender Gian. Neugierig riss sie den Brief auf und las noch im Stehen:
Hallo Mädchen
Deine Einladung hat mich sehr gefreut. Ich habe es mir lange überlegt, ob ich sie annehmen will. Jakob hat mich überredet, und so habe ich mich dazu entschlossen, dich zu besuchen. Wird ja höchste Zeit, dass ich das Meer sehe, wenn es alle so rühmen. Da es meine erste grosse Reise ist, habe ich lange gezögert. Jakob schaut zu meinem Haus und zur Scherzlihütte. Stell dir vor, ich fuhr zu Martina nach Zürich ins Reisebüro, und sie hat mich hervorragend beraten. Martina wäre auch gerne mitgekommen, ich hätte nichts dagegen gehabt. Sie ist eine patente Frau und sehr nett. Am liebsten wäre wohl auch Jakob mit nach Lanzarote mitgekommen, aber du weisst, er hat Verpflichtungen, und so wird er nun in Toss zum Rechten schauen, sodass ich am 25. November um 11.30 am Flughafen in Arrecife ankommen werde. Ich werde drei Wochen bleiben können, denn auf Weihnachten will ich wieder zu Hause sein und die Feiertage hier in Toss verbringen. Ich hoffe, dass ich dich nicht störe, sonst schlafe ich dann am Strand. Bis bald und liebe Grüsse
Gian
PS: Was muss ich zum Anziehen mitnehmen?
Sophie las die handgeschriebenen Zeilen mehrmals. Sie freute sich wie ein kleines Kind auf Gian. Gian, der noch nie aus seinem geliebten Toss weiter als bis Zürich gekommen war, der noch nie mehr als zwei Tage von zu Hause weg war, würde sie besuchen. Der Gedanke liess Sophie wie ein kleines Kind herumhüpfen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie malte sich aus, was sie mit ihm in diesen drei Wochen alles anstellen würde. Sie würde ihm die Insel zeigen. Sie würden gemütlich vor dem Appartement sitzen und ein Glas Wein trinken. Sie würde ihm von ihren Erlebnissen erzählen. Vielleicht würde sie ihn mit in ihre Stammbar, die Carasbar, zu ihren Kollegen mitnehmen. Sie musste Gian unbedingt mitteilen, dass er eine warme Jacke mitnehmen sollte, denn am Abend war es oft sehr kühl.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Helga Adhira Hell gar nicht kommen hörte. «Schönen guten Mittag. Sie strahlen wie die magische Sonne. Gibt's etwas Neues, gute Nachrichten, ich spüre es?»
«Ja, ich freue mich, weil …»
«Es ist so ein wunderschöner Tag heute, und ich muss noch in mein Zentrum. Heute kommt Carlos Ramon zu mir in die Sprechstunde.»
«Der Schauspieler?»
Helga Adhira war es für einmal peinlich, dass sie den Namen eines Kunden bekannt gab.
«Ist es der Carlos Ramon …»
«Ach, vergessen Sie's. Es ist mir einfach rausgerutscht.»
«Aber der Carlos …»
«Hacken Sie doch nicht darauf herum. Ist es denn so wichtig? Kennen Sie ihn?»
«Eigentlich würde es mich …»
«Machen Sie sich einen gemütlichen Nachmittag am Strand, das wird Ihnen gut tun.»
«Ja, das werde …»
«Also Kindchen, dann muss ich mal. Meine Kunden warten.»
«Ja, ich freue mich auf …»
«Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag.»
Sophie hatte keine Chance, Helga Adhira Hell ihre Freude über den bevorstehenden Besuch von Gian mitzuteilen. Nun, sie wird es wohl schon wissen, als Hellseherin, grinste Sophie vor sich hin.
Aber dennoch, langsam aber sicher ging ihr diese Schnepfe wirklich auf den Geist. Und so was nannte sich Heilerin und Beraterin, die interessierte sich ja überhaupt nicht für andere. Sophie zog sich ärgerlich in ihr Appartement zurück. Sie verscheuchte die Gedanken an ihre ohne Punkt und Komma quasselnde Nachbarin und dachte wieder an den bevorstehenden Besuch von Gian.
Kapitel 6
Einen Tag, bevor Gian Piatt zum Flughafen fuhr, packte er seinen Koffer hundertmal ein und aus. Den warmen Pullover nahm er gleich aus dem Kasten und legte ihn bereit, nachdem er von Sophie eine weitere Postkarte erhalten hatte. Seine Nervosität war kaum auszuhalten, denn es war sein erstes grosses Reiseabenteuer. Immer wieder ging er seine Reiseunterlagen durch. Ein bisschen unsicher war er schon. Er war noch nie in einem Flughafen gewesen, geschweige denn geflogen. Würde er alles richtig machen? Und wenn er in Honolulu landete oder noch weiter weg, weil er ins falsche Flugzeug einstieg? Martina hatte ihm zwar genau erklärt, was er zu tun hatte. Sie bot ihm an, ihn an den Flughafen zu begleiten. «Nein, nein, das schaffe ich schon», meldete sich Gians Stolz. Damit war das Thema für ihn erledigt.
Als er mit viel Hüst und Hott seinen Koffer aufgegeben, eingecheckt und die Grenzkontrolle hinter sich gebracht hatte, liess er sich erschöpft auf einem Sessel im Wartebereich nieder. «Uff, ist das aufregend, bis man nur im Flugzeug sitzt», brummelte er zu einer netten älteren Dame, die nebenan sass.
«Wohin reisen Sie?»
«Nach Lanzarote», antwortete er knapp.
Auf eine längere Konversation mochte er sich nicht einlassen, er war viel zu aufgewühlt und aufgeregt, und seine Gedanken waren bereits bei Sophie. Mehr als ein Jahr hatten sie sich nicht mehr gesehen. Er und Jakob hatten Sophie verpasst, als sie just bei ihrem Besuch in Toss am Sechseläuten in Zürich waren. Wie wohl ihre Haarfarbe heute war?
«Ich reise nach London», hörte er die ältere Dame sagen.
«Ah, dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise.»
«Ihr Flug nach Lanzarote steht zum Einsteigen bereit», wies ihn die Dame auf die blinkende Anzeigetafel hin.
Gian wühlte nach der Boardingkarte. Und weg war er.
Gian klebte am Fenster und schaute hinaus in die Wolken. Zehntausend Meter hoch flogen sie, mehr als doppelt so hoch wie der Tossberg. Alles war so erregend, Gian war wie elektrisiert. Er hätte es sich nie träumen lassen, in seinen späten Jahren so weit zu reisen. Der Flug verlief angenehm, und fast bedauerte es Gian, als er einige Stunden später auf dem Flughafen Arrecife stand und ihm zum ersten Mal im Leben der Geruch des nahen Meeres entgegenschlug.
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