Der 1. Fall
Georges Simenon
Pietr der Lette
Roman
Aus dem Französischen von Susanne Röckel
Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis
Kampa
1 Alter ca. 32, Größe 1 m 69
Interpol an Sûreté Paris
Xvzust Krakau vimontra m ghks triv psot uv Pietr der Lette Bremen vs tyz btolem.
Kommissar Maigret von der Ersten Mobilen Brigade hob den Kopf. Der gusseiserne Ofen, der mitten in seinem Büro stand und durch ein dickes Rohr mit der Decke verbunden war, schien weniger laut zu bullern als noch ein paar Augenblicke zuvor. Er schob das Telegramm beiseite, erhob sich schwerfällig, regulierte die Lüftung und warf drei Schaufeln Kohle ins Feuer. Dann stopfte er mit dem Rücken zum Ofen seine Pfeife und zerrte an seinem engen Kragen. Er sah auf die Uhr: Es war vier. Sein Jackett hing an einem Haken hinter der Tür. Langsam ging er zum Tisch, las das Telegramm noch einmal und übersetzte für sich:
Interpol an Sûreté Paris
Polizei Krakau meldet: Pietr der Lette auf Durchreise Fahrtziel Bremen.
Die Internationale kriminalpolizeiliche Kommission (Interpol) mit Sitz in Wien leitet den Kampf gegen international agierende Banden und kümmert sich insbesondere um die Vernetzung der nationalen kriminalpolizeilichen Behörden.
Maigret nahm ein zweites Telegramm zur Hand, das ebenfalls im Polcode verfasst war, der internationalen Geheimsprache, die in der Kommunikation der Polizeidienste auf der ganzen Welt verwendet wird. Er übersetzte beim Lesen:
Polizeipräsidium Bremen an Sûreté Paris
Ankunft Pietr der Lette und Weiterfahrt nach Amsterdam und Brüssel.
Ein drittes Telegramm von der Nederlandsche Centrale in Zake Internationale Misdadigers, dem Oberkommando der niederländischen Polizei, meldete:
Pietr der Lette 11 Uhr Abfahrt im Étoile du Nord Abteil G 263 Wagen 5 Zielbahnhof Paris.
Die letzte Depesche im Polcode kam aus Brüssel.
Bestätigung Pietr der Lette um zwei Uhr im Étoile du Nord in dem von Amsterdam angegebenen Abteil.
Hinter dem Schreibtisch hing eine riesige Landkarte, vor der Maigret sich nun aufstellte, groß und schwer, beide Hände in den Hosentaschen, die Pfeife im Mundwinkel.
Sein Blick schweifte von dem Punkt, der Krakau bezeichnete, zu einem anderen Punkt, Bremen, und von dort nach Amsterdam und Brüssel.
Wieder sah er auf die Uhr. Zwanzig nach vier. Der Étoile du Nord musste jetzt mit hundertzehn Kilometern pro Stunde zwischen Saint-Quentin und Compiègne dahinrasen.
Kein Halt an der Grenze. Kein Abbremsen.
In Wagen 5, Abteil G 263, war Pietr der Lette vermutlich damit beschäftigt, zu lesen oder die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten.
Maigret ging zu einer Tür, hinter der sich ein Wandschrank befand, wusch sich die Hände im Emaillebecken, fuhr mit dem Kamm durch sein dichtes dunkelbraunes, nur an den Schläfen von wenigen weißen Fäden durchzogenes Haar und rückte dann so gut es ging die Krawatte zurecht, deren Knoten ihm nie korrekt gelang.
Es war November. Es dämmerte.
Durchs Fenster sah er einen Arm der Seine, die Place Saint-Michel, ein Waschschiff, eingehüllt in dunkles Blau, das nach und nach von Gaslaternen erhellt wurde.
Er öffnete eine Schublade und überflog ein Telegramm des Internationalen Erkennungsdienstes in Kopenhagen:
Sûreté Paris
Pietr der Lette 32 169 01512 0224 0255 02732 03116 03233 03243 03325 03415 03522 04115 04144 04147 05221 … usw.
Diesmal machte er sich die Mühe, die Nachricht laut zu übersetzen und sie sogar mehrmals zu wiederholen, wie ein Schüler, der etwas auswendig lernt:
Personenbeschreibung Pietr der Lette: Alter ca. 32, Größe 1 m 69, Statur schlank, Nase gerade, Basis breit, Scheidewand normal, äußerer Ohrmuschelrand auffällig geformt, Ohrläppchen groß, anliegend, Gegenleiste schmal, Ohrmuschelhöcker vorstehend, Höhlung tief, Helixkrümmung normal, Gesicht lang, Wangen leicht hohl, Brauen dünn, hellblond, Unterlippe vorspringend, hängend, Hals lang, Augenfarbe graugrün, Iris gelblich, Haare hellblond.
Dieser polizeiinterne Steckbrief von Pietr dem Letten war für den Kommissar nicht weniger aussagekräftig als eine Fotografie. In groben Zügen: ein nicht sehr großer Mann, schlank, jung, mit sehr hellen Haaren, dünnen blonden Augenbrauen, grünlichen Augen und langem Hals.
Maigret kannte zudem die Form des Ohrs in allen Einzelheiten, was ihm erlauben würde, den Gesuchten in einer Menschenmenge zu erkennen, selbst wenn er stark geschminkt wäre.
Er nahm sein Jackett vom Haken, schlüpfte hinein, zog seinen dicken schwarzen Mantel an und setzte die Melone auf.
Ein letzter Blick zum Ofen, der kurz vor dem Bersten zu stehen schien.
Am Ende eines langen Flurs, auf dem Treppenabsatz, der als Vorzimmer diente, eine Anweisung an Jean:
»Vergiss ja mein Feuer nicht!«
Auf der Treppe überraschte ihn ein kalter Luftzug, und er musste in einer Ecke Schutz suchen, um seine Pfeife anzuzünden.
Trotz des riesigen Glasdachs peitschten Windböen über die Bahnsteige der Gare du Nord. Mehrere Scheiben hatten sich gelöst und waren zwischen die Gleise gekracht. Immer wieder fiel der Strom aus. Die Leute sahen plump aus in ihren dicken Kleidern.
Vor einem Schalter lasen Reisende eine beunruhigende Nachricht:
Sturm über dem Kanal.
Und eine Frau, deren Sohn in den Zug nach Folkestone stieg, wirkte bestürzt und hatte rote Augen. Bis zum letzten Moment redete sie mahnend auf ihn ein. Ihm war das peinlich, aber er musste versprechen, auf der Fähre keinen Augenblick an Deck zu verbringen.
Maigret stand an Gleis 11, wo die Menge auf den Étoile du Nord wartete. Alle großen Hotels und natürlich auch die Reiseagentur Cook waren vertreten.
Er rührte sich nicht. Andere wurden nervös. Eine junge Frau im Nerz, die Beine jedoch von feinster Seide umspannt, hämmerte beim Hinundhergehen mit ihren Absätzen auf den Boden.
Doch er blieb stehen, wo er war, groß und mächtig, mit seinen imposanten Schultern, die einen breiten Schatten warfen. Er wurde angerempelt, schwankte aber so wenig wie eine Mauer.
Das gelbe Licht des Zuges tauchte in der Ferne auf. Dann gab es einen Höllenlärm; die Schreie der Träger, die hastigen Schritte der Reisendenden in Richtung Ausgang.
Maigret ließ zweihundert von ihnen an sich vorbeiziehen, bevor sein Blick im Strom an einem kleinen Mann hängen blieb, dessen grün karierter Reisemantel in Schnitt und Farbe eindeutig nordisch war.
Der Mann hatte es nicht eilig. Ihm folgten drei Träger. Der Hausdiener eines Grandhotels an den Champs-Élysées bahnte ihm unterwürfig den Weg.
Alter ca. 32 , Größe 1 m 69 … Nase gerade …
Maigret bewegte sich immer noch nicht. Sein Blick richtete sich auf das Ohr. Das genügte ihm.
Der Mann in Grün ging ganz dicht an ihm vorbei. Einer der Träger stieß mit einem Koffer gegen den Kommissar.
Im selben Moment begann ein Eisenbahner zu laufen und rief einem Kollegen etwas zu, der am Ende des Bahnsteigs neben der Kette stand, mit der man den Durchgang sperren konnte.
Die Kette wurde eingehängt. Lauter Protest erhob sich.
Der Mann im Reisemantel war schon am Ausgang.
Der Kommissar rauchte in kleinen, schnellen Zügen. Er ging zu dem Beamten, der die Kette eingehängt hatte.
»Polizei! Was ist los?«
»Ein Verbrechen … Gerade haben wir entdeckt …«
»Wagen 5?«
»Ich glaube, ja …«
Im Bahnhof ging es zu wie immer. Nur an Gleis 11 bot sich ein ungewohnter Anblick. Etwa fünfzig Reisenden wurde der Durchgang verwehrt. Sie verloren die Geduld.
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