Gleichzeitig sprach er mit Torrence:
»Sie, mein Lieber, richten sich im Majestic ein. Und vor allem, lassen Sie sich vom Hoteldirektor nicht aus der Ruhe bringen.«
»Und Sie, Chef?«
»Ich gehe ins Büro. Um halb sechs fahre ich nach Fécamp. Es lohnt sich nicht, vorher heimzugehen und meine Frau zu wecken. Sagen Sie, die Brasserie ist doch noch offen, oder? Wenn Sie vorbeikommen, bestellen Sie mir ein Bier …«
»Eins?«, wiederholte Torrence und setzte dabei eine Unschuldsmiene auf.
»Wenn Sie so gut sein wollen, mein Lieber. Der Kellner ist schlau genug, darunter drei oder vier zu verstehen. Und er soll ein paar Sandwiches dazulegen.«
Hintereinander stiegen sie eine nicht enden wollende Wendeltreppe hinunter.
Der Fotograf im schwarzen Kittel blieb allein zurück; nicht ohne Wohlgefallen betrachtete er seine Abzüge und begann sie zu nummerieren.
In einem eiskalten Hof trennten sich die beiden Polizeibeamten.
»Wenn Sie das Majestic aus irgendeinem Grund verlassen, sorgen Sie dafür, dass jemand von uns die Stellung hält«, sagte der Kommissar. »Falls nötig, werde ich Sie dort anrufen.«
Und er ging in sein Büro und schürte den Ofen, dass fast der Rost dabei zerbrach.
4 Der Zweite Offizier der Seeteufel
Der Bahnhof von La Bréauté, wo Kommissar Maigret um halb acht aus dem Fernzug Paris– Le Havre ausstieg, gab ihm einen Vorgeschmack von Fécamp.
Eine schlecht beleuchtete Bahnhofsgaststätte mit schmutzigen Wänden und einer Theke, auf der ein paar trockene Kuchen vor sich hin schimmelten und drei Bananen und fünf Orangen versuchten, eine Pyramide zu bilden.
Hier toste der Sturm noch wütender. Es goss in Strömen. Um von einem Bahnsteig zum anderen zu gelangen, watete man bis zu den Knien im Matsch.
Ein ungemütlicher kleiner Zug mit Waggons, die schon lange ausrangiert gehörten. Bauernhöfe, die sich undeutlich, verwischt von Regenschnüren, im bleichen Morgenlicht abzeichneten.
Fécamp! Ein durchdringender Geruch nach Stockfisch und Hering. Haufen von Fässern. Masten hinter den Lokomotiven. Irgendwo heulte eine Sirene.
»Quai des Belges?«
Immer geradeaus. Man brauchte nur durch die zähflüssigen Pfützen zu laufen, in denen die Schuppen der Fische glitzerten und ihre Eingeweide verfaulten.
Der Kunstfotograf war auch Krämer und Zeitungshändler. Er verkaufte Südwester, Matrosenjacken aus Segeltuch, Hanfseile und Neujahrskarten.
Ein farbloser, schmächtiger Mann, der seine Frau zu Hilfe rief, sobald das Wort »Polizei« gefallen war. Und sie, eine schöne Normannin, sah Maigret fast provozierend in die Augen.
»Können Sie mir sagen, welches Foto in diesem Umschlag war?«
Es dauerte lange. Er musste dem Fotografen die Wörter aus der Nase ziehen, an seiner Stelle denken.
Das Bild war mindestens acht Jahre alt, denn seit acht Jahren machte er solche Aufnahmen nicht mehr. Er hatte sich einen neuen Apparat gekauft und verkaufte nur noch Fotografien im Postkartenformat.
Wer hatte sich vor acht Jahren von ihm fotografieren lassen? Es dauerte eine Viertelstunde, bis Monsieur Moutet sich daran erinnerte, dass er Abzüge aller Porträtfotos in einem Album aufbewahrte.
Seine Frau holte das Album. Matrosen traten ein und gingen wieder. Kinder verlangten Bonbons für einen Sou. Draußen knarrten die Takelagen der Schiffe. Man hörte das Meer über den Kieselstrand am Deich fluten.
Maigret blätterte das Album durch und präzisierte:
»Eine junge Frau mit braunen, sehr feinen Haaren …«
Das genügte.
»Madame Swaan!«, rief der Fotograf.
Und gleich fand er das Bild. Es war das einzige Mal, dass er ein vorzeigbares Modell gehabt hatte.
Die Frau war hübsch, etwa zwanzig Jahre alt. Das Foto passte genau in den Umschlag.
»Wer ist das?«
»Sie wohnt noch in Fécamp. Aber heute besitzt sie eine Villa an der Steilküste, fünf Minuten vom Kasino entfernt.«
»Verheiratet?«
»Damals nicht. Sie arbeitete als Kassiererin im Hôtel du Chemin de Fer.«
»Also direkt gegenüber dem Bahnhof!«
»Ja, Sie haben es bestimmt gesehen, als Sie kamen. Sie ist Waise, stammt aus einem kleinen Ort hier in der Gegend. Les Loges … Kennen Sie ihn? … Sie hat einen Reisenden kennengelernt, der im Hotel abstieg, einen Ausländer. Sie haben geheiratet … Zurzeit lebt sie in der Villa mit ihren zwei Kindern und einer Haushälterin.«
»Monsieur Swaan wohnt nicht in Fécamp?«
Es gab eine Pause, und der Fotograf und seine Frau wechselten einen Blick. Dann sprach die Frau.
»Da Sie von der Polizei sind, ist es besser, alles zu sagen, nicht wahr? Außerdem werden Sie es sowieso erfahren … Es sind nur Gerüchte … Monsieur Swaan ist fast nie in Fécamp. Wenn er kommt, dann nur für ein paar Tage. Manchmal ist er bloß auf der Durchreise.
Das erste Mal kam er kurz nach dem Krieg. Da waren wir gerade dabei, den Fischfang in Neufundland wiederaufzunehmen, den wir fünf Jahre lang aufgegeben hatten.
Er wollte die Sache angeblich prüfen und Geld in die Geschäfte stecken, die sich abzeichneten.
Er behauptete, Norweger zu sein. Mit Vornamen heißt er Olaf. Die Heringsfischer, die manchmal bis nach Norwegen kommen, sagen, dass dort oben viele so heißen.
Trotzdem gab es Gerüchte, dass er in Wahrheit ein deutscher Spion wäre.
Darum haben wir, als er heiratete, seine Frau geschnitten.
Dann haben wir erfahren, dass er Seemann ist und als Zweiter Offizier an Bord eines deutschen Handelsschiffs fährt und deshalb so selten hier ist.
Schließlich haben wir das Interesse an ihm verloren, aber die Leute hier sind eben immer misstrauisch …«
»Sie sagten, dass er Kinder hat?«
»Zwei. Ein Mädchen von drei Jahren und ein Baby, ein paar Monate alt.«
Maigret nahm das Bild aus dem Album und ließ sich den Weg zur Villa beschreiben. Es war noch zu früh für einen Besuch.
Zwei Stunden wartete er in einem Café am Hafen und hörte den Seeleuten zu, die sich über die auf Hochtouren laufende Heringsfischerei unterhielten. Fünf schwarze Kutter lagen am Quai. Fass um Fass wurden Fische entladen, und trotz des Sturms hing der Gestank überall.
Auf dem Weg zur Villa ging er den verwaisten Deich entlang und umrundete das geschlossene Kasino, an dessen Wänden noch die Plakate vom letzten Sommer hingen.
Schließlich stieg er einen steilen Pfad nach oben. Da und dort sah er den Zaun einer Villa.
Diejenige, die er suchte, war aus rotem Backstein, von mittlerer Größe und durchaus ansehnlich. Man sah, dass der Garten mit den weißen Kieswegen in der schönen Jahreszeit sorgfältig gepflegt wurde. Von den Fenstern aus musste man einen weiten Blick haben.
Er läutete. Eine Dänische Dogge näherte sich, um ihn, ohne Gebell, doch mit umso grimmigerer Miene, durch das Gitter zu beschnüffeln. Beim zweiten Läuten erschien eine Haushälterin, die den Hund in einen Zwinger sperrte und dann fragte:
»Was wollen Sie?«
Sie sprach den örtlichen Dialekt.
»Ich würde gern mit Monsieur Swaan sprechen, wenn es möglich ist.«
Sie schien zu zögern.
»Ich weiß nicht, ob Monsieur gerade da ist … Ich werde fragen …«
Sie hatte das Gittertor nicht geöffnet. Es goss immer noch in Strömen. Maigret war völlig durchnässt.
Er sah die Haushälterin die Treppe hochgehen und im Haus verschwinden. Dann bewegte sich ein Vorhang an einem der Fenster. Etwas später kam die Frau zurück.
»Monsieur wird erst in ein paar Wochen wieder da sein. Er ist in Bremen …«
»In diesem Fall möchte ich gern mit Madame Swaan sprechen.«
Sie zögerte erneut, öffnete aber schließlich das Tor.
»Madame ist noch nicht angekleidet. Sie müssen warten.«
Er wurde in ein blitzblankes Wohnzimmer mit weißen Gardinen an den Fenstern und gebohnertem Parkett geführt. Das Wasser tropfte ihm von den Kleidern.
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