Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach
Sieben Berge
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rosmarie Bernasconi und Peter Maibach Sieben Berge Roman Dieses eBook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Impressum
Kapitel 1
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Sieben Berge liegen vor mir. Bloss, wie manchen schaffe ich noch? Sieben Berge, überlege ich, einen nach dem andern. Bei unserem Stein, hoch oben auf der Pläni, bleibe ich ein paar Augenblicke stehen, verschnaufe. Hier, bei diesem Felsbrocken, haben wir jeweils Halt gemacht, wenn wir vom Dorf her aufgestiegen sind: Sophie, Gian, Martina, Gran, Rebekka. Doch heute bin ich alleine unterwegs und habe wenig Lust auf eine einsame Rast. Der Weg, der vor mir liegt, zieht mich vorwärts.
«Komm, was hast du dort unten noch verloren? Komm endlich», ruft die Ungeduld. Sie will mich wegziehen, weg von Toss, das so lange mein Dorf gewesen ist. Ich gehe zaudernd ein paar unentschlossene Schritte, schaue hinunter ins Tal.
«Nur noch diese eine Geschichte, die letzte, ich verspreche es dir, die will ich noch zu Ende erzählen.»
«Ich kenne sie bereits», murrt die Ungeduld. «Komm, komm mit mir, ich bin deine Zukunft!»
«Erinnerungen sind meine Zukunft», erwidere ich.
«Erinnerungen sind trügerische Spiegel. Sie halten die unerwünschten Bilder verborgen, und es scheinen nur die schönen, hellen Tage im Album des Vergangenen eingeklebt zu sein», argumentiert die Ungeduld.
Tatsächlich, soweit ich mich auch zurückerinnere, im Sommer regnete es nie. Wenn ich zur Schule musste, ja sogar wenn ich krank war, strahlte die Sonne. Die Winter versanken blitzweiss im Schnee, die Sommer glänzten wie Postkarten. Es war nie zu heiss und nie zu kalt. Ich wurde nie müde, ich hatte immer gute Laune. Alle waren fröhlich.
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Die Sommerferien in der Stadt dauerten ewige sechs Wochen, da blieb sogar für einen Schulbuben mit tausend Flausen im Kopf noch Zeit für Trödelei oder gar Langeweile. Doch schon bald würden wir den Stadtmief gegen die gute Bergluft vertauschen, schwärmte Mutter, und das würde uns allen gut tun.
Wohin in die Ferien, war vorgegeben. Wie jedes Jahr ging es in die Berge, in ein verträumtes Bergdorf in den Alpen, nach Toss. Dort mietete Vater beim alten Anderegg eine bescheidene Ferienwohnung. Sie war klein, mit viel dunklem Holz, niederen Räumen, einem schlichten Holzkreuz über der Türe, schmalen Fenstern, Geranienrot vor blitzenden Fensterscheiben, rot-weiss karierten Vorhängen, rot-weiss kariertem Bettzeug, soliden Möbeln, in Toss sahen alle Häuser so aus. Die Andereggs, eine Bergbauernfamilie, die aus starken, schweigsamen Männern bestand, die sich nur sonntags rasierten, die dunkel waren wie die von der Sonne verbrannten Holzhäuser und die mit kantigen, energischen Frauen mit harten, kräftigen Händen zusammen lebten. Wie eine Uniform trugen die alten Frauen schwarze Kleidung, ihre Männer klammerten sich an einen kräftigen Stock. Alle, Jung oder Alt, trugen klobige solide Bergschuhe, die Männer oft Militärstiefel.
Sophie! Sie war ein Jahr jünger als ich. Blaue Augen, meistens mit fliegenden Zöpfen und einer spitzen Zunge. Etwas lebendig Buntes umgab sie, schwirrte aufgeregt wie Schmetterlinge um ihre drahtige Gestalt. Ein Halstuch, eine Schleife, eine Blume setzten Farbtupfer auf ihre schlichte Arbeitskleidung. «Sie ist mein Schatz in Toss», erzählte ich der Mutter.
Die Anreise ins Dorf verlief umständlich. Die Packrituale in unserer kleinen Familie glichen denjenigen der Arche Noah, von der ich in der Sonntagsschule hörte.
«In Toss gibt es nichts!», verkündete die Mutter wie jedes Jahr. Und so kam Stück um Stück zusammen, das unverzichtbar zur Alltagsausrüstung in den rauen Bergen gehören musste. Der Gepäckberg entlockte dem Vater einen Seufzer. Ob wir in die Ferien fahren wollten oder nach Toss auswandern, war seine alljährliche Frage. Mutter quittierte wie immer mit einem schmalen Lächeln; sie sei so stolz auf ihre beiden starken Männer. Nach einer langen Zugfahrt, die wir hauptsächlich bei ausgedehnten Picknicks im Abteil verbrachten, und etlichem Umsteigen ging’s weiter mit dem Postauto, einem riesigen, heissen, gelbschwarzen Ungetüm. Gegen ein Trinkgeld, dem jedes Mal einiges Getuschel und Gezischel zwischen Vater und Mutter vorausging, war der Fahrer gerne bereit, ausserplanmässig einen Halt einzulegen, im Rank, dort, wo der Weg vom Dorf in die Kantonsstrasse einmündete.
Meistens wartete der alte Anderegg bereits, schweigend und rauchend an seinen Trecker gelehnt. Vater und der Chauffeur wuchteten das Gepäck aus dem kleinen Anhänger des Postautos und luden es auf Andereggs angehängten Heuwagen. Dann zurrten sie die Bagage fest, als ginge es auf eine mehrtägige Reise. Behütet von tausend Ermahnungen der Mutter, kletterte ich auf die Ladefläche, setzte mich artig zwischen Vater und Mutter hinten auf den Heuwagen. Die Einheimischen schauten wie Masken durch die Wagenfenster zu. Am Abend, am Stammtisch im Hirschen, würden sie von den Verrückten aus der Stadt erzählen, mit ihrem Gepäckberg, wo ihnen doch ein Rucksack für die Besorgungen im Tal längstens ausreichte.
Anderegg liess den Motor anspringen, gab Gas, der nagelnde Lärm steigerte sich, bis er jedes Gespräch übertönte, glücklicherweise auch Mutters ständige Ermahnungen, ja aufzupassen, auf die Beine, auf die Räder und wer weiss was noch für Schicksalsschläge, die rundherum auf uns lauerten.
«Obacht», rief Anderegg über die Schulter. Mit einem Ruck setzte sich unsere Fuhre in Bewegung. Gleich nach der ersten Biegung holperten wir über die untere Brücke. Steil unter den Bohlen rauschte der Tossbach. Mutter nahm meinen Arm, verstärkte ihren Griff, damit wir nicht ins Tobel stürzten. Das Rauschen des Baches verklang hinter uns, als die schmale Strasse steiler wurde und sich in Serpentinen durch den Wald hoch quälte. Hoch oben, weit über der Kantonsstrasse, nach einer dunkelgrünen, feuchtkühlen Wegstrecke durch die Schlucht, überquerten wir den Tossbach ein zweites Mal. Die Mutter fröstelte. Kurz nach der Stahlbrücke, der oberen Brücke, wie die Einheimischen sie bezeichneten, flachte die Steigung ab. Der Wald trat zurück, und eine milde Feriensonne liess die Kühle schnell vergessen. Anderegg konnte jetzt bereits das Dorf vor sich sehen. Ich wollte aufstehen, Ausschau halten, denn bald mussten wir am Seeli vorbeikommen. Eine breite und tiefe Stelle im Tossbach, kurz vor dem Dorf, ersetzte im Sommer das Schwimmbad für uns Kinder. Es brauchte schon einiges an Überwindung, in das eiskalte Gletscherwasser einzutauchen. Sophie schwamm wie ein Otter durch das Eiswasser, braun gebrannt, in einem knallroten Badeanzug. «Fräulein Jakob, ist es euch zu kalt?», spottete sie und tauchte ab in die grüne Tiefe.
Mutter riss mich aus meinen Träumereien: «Pass auf, Bub.» Artig setzte ich mich wieder hin. Ich hatte das Seeli erspäht und einen ersten Blick auf das Dorf geworfen, das auf der Hochebene in einer sanften Mulde vor dem Oberwald vor uns lag. Von unseren Sitzplätzen auf der hinteren Wagenkante aus sahen wir weit in das breite Tal hinein, das in der blauen Ferne sanft mit dem Himmel verschmolz. Die Mutter entspannte sich, lockerte ihren strengen Griff. Vater schaute sich nach Anderegg um, winkte ihm vergnügt zu. Anderegg schaltete den Trecker in einen höheren Gang, ein Ruck, und die Sommerferien in Toss begannen.
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