An einem Samstagmorgen im März, an den man sich noch Jahre später in Gesprächen im Hirschen als besonders kalt und schneereich erinnerte, erreichte ich das Dorf nur knapp vor einem heftigen Schneesturm. Die Schneeböen schoben mich im konturenlosen Hellgrau von der Haltestelle zur Casa Anderegg, zerrten knatternd an Windjacke und Hosen wie an einer Fahne im Sturm. Die Türe zum Windfang schlug hinter mir zu, ich konnte endlich Luft holen, mich aus den dicken Winterkleidern befreien und in die gut geheizte Casa treten.
In diesem Jahr waren die alten Andereggs im Tal geblieben, die harten Bergwinter waren ihnen zu anstrengend geworden. Die alten Bergbauern waren, wie andere auch, endgültig hinunter ins Tal gezogen. Meine Eltern waren deshalb in die grössere, alte Wohnung der Andereggs gezogen und kümmerten sich jetzt um die Gäste in der Ferienwohnung. Vater schaute zum Haus, hielt die Heizung in Gang, schaufelte Schnee und drehte seine Runden, die ihm regelmässig einen Besuch im Hirschen ermöglichten. Er sah gut aus, die Tätigkeit an der frischen Luft tat ihm gut.
Nach dem Mittagessen half ich Mutter beim Abtrocknen. «Wie früher», lächelte sie, «das war deine Aufgabe, Jakob.» Die gewohnte Vertrautheit stellte sich wieder ein. Wir fanden unseren Rhythmus in der engen Küche, arbeiteten einander in die Hand. Mutter klönte über dies und jenes, kaute die neuesten Dorfgerüchte durch. Sie schien zu einer der Dorffrauen geworden zu sein. Neuerdings gehe sie mit Vater Schneewandern, erzählte sie begeistert. Ja genau, mit den Tennisschlägern an den Schuhen, parierte sie meine Anspielung. Herrlich sei es entlang den stillen Hängen und durch den tief verschneiten Oberwald. Dann kam die Sprache auf Sophie.
Man erzähle im Dorf, sie sei irgendwo im Schmelztiegel Londons gestrandet. «Stell dir vor, man sagt, sie singt in Nachtlokalen.» Mutters Abscheu vor solch sündigen Etablissements, die sie offenbar mit den Dorffrauen teilte, war deutlich herauszuhören. Nur wenig fehlte, und sie hätte sich bekreuzigt, wie es hier oben Sitte war, wenn es galt, Unheil abzuwenden. Als Mutter mein wachsendes Interesse am Thema bemerkte, lächelte sie schelmisch: «Du wirst Sophie morgen selber fragen können. Sie hat angerufen, sie brauche für ein paar Tage Heimatluft und ein paar Kubikmeter Schnee, hat sie gesagt. Ich habe ihr altes Zimmer für sie hergerichtet.
Der Schneesturm hatte etwas nachgelassen. «Ich drehe noch eine Runde», rief ich vom Windfang her über die Schulter.
«Wie der Vater, genau der Vater», rief mir Mutter nach.
Genau, Vater stand mit Gian Piatt vor dem Hirschen. «Wie früher, exakt wie früher!», ereiferte sich Gian in weissen Atemwolken, die Hände in den Hosentaschen, mit einer schwarzen Zipfelmütze tief über die Ohren heruntergezogen. «Die machen doch nie etwas für uns hier oben.»
Seit Mittag war die Strasse einmal mehr unpassierbar, das Postauto hatte es noch knapp ins Tal geschafft. Die Verwehungen bei der oberen Brücke würden erst morgen geräumt werden, wenn der schwere Schneepflug aus dem Tal den Weg nach Toss in Angriff nehmen konnte.
«Unerhört! An uns denken sie immer zuletzt!», wetterte Gian.
Vater winkte mir zu, legte den Arm um Gian: «Kommt, kommt, wir wollen schauen, ob die im Hirschen etwas Neues wissen.»
«Aber da kommen wir doch gerade her?», wunderte sich Gian.
«Aber Jakob noch nicht!», wurde er überzeugt.
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Sophies Umzug von Bern nach Zürich war keine grosse Sache, ein Koffer, ein Rucksack, darin fand die gesamte Habe Platz. Mitten im lebendigen Niederdorf, in der Nähe des Predigerplatzes, entdeckte sie eine bezahlbare Einzimmerwohnung. Sie lag direkt neben der für ihr Musikprogramm berühmten Carltonbar. Es spielten bekannte und weniger bekannte Musikgruppen. Sophie genoss es, sich nach einem anstrengenden Tag bei einem Schlummertrunk in der Bar zu entspannen. Ab und zu besuchte sie einen Konzertabend, Schlafen konnte sie meist nicht vor Mitternacht, da die Konzerte oft bis weit in die Nacht hinein dauerten und die Bässe bis in ihre Wohnung hämmerten. Aber sie wusste dies bereits, als sie die Wohnung in der Altstadt besichtigte. Der Vermieter, ein dicklicher, nach Alkohol riechender älterer Herr, erklärte ihr: «Ruhig werden Sie es hier nicht haben, Frau Anderegg, aber Sie sind noch jung und haben sicher Spass an der lebendigen Umgebung.»
Ihre Wohnung lag ausserdem in der Nähe ihres Arbeitsortes, dem Reisebüro Maruc Travel. Martina Maruc, die Besitzerin, war ausgesprochen nett und zuvorkommend. Beim Vorstellungsgespräch waren sich die beiden Frauen auf Anhieb sympathisch. Die hagere, gross gewachsene, sportlich-elegant gekleidete Martina und die eher freche, wilde Sophie schienen gut zueinander zu passen und freuten sich auf die gemeinsame Arbeit. Auch in einer Zeit, in der man froh war, qualifiziertes Personal zu finden, war Martina Maruc sehr wählerisch. Sie wusste, was ein gutes Team bedeutete. Hervorragende Beratung und Kundenfreundlichkeit waren eine Spezialität des Reisebüros, das als Geheimtipp galt.
Die zwei Jahre ältere Martina interessierte sich nach einigen Enttäuschungen, über die sie schwieg, kaum noch für Männerbekanntschaften. Sie stellte ihre Arbeit in den Vordergrund, selbst wenn der Richtige käme, würde sie kaum Zeit für eine neue Partnerschaft finden.
«Komm, du musst wieder einmal unter die Leute», pflegte Sophie Martina von der Arbeit weg zu locken. Nach einigen anfänglichen Protesten zogen die beiden Frauen dann doch ausgelassen wie Schulmädchen durch die Bars im Dörfli.
Wenn eine Zufallsbekanntschaft an Martina Interesse zeigte, verhielt sie sich meist stachelig und zickig, sodass jeder noch so liebenswerte Mann rasch das Weite suchte. Nein, Martina war nicht chancenlos, trotz ihrer muskulösen, aber hageren Gestalt wirkte sie attraktiv, und sie kam mit ihrer charmanten Ausstrahlung und ihren grossen, dunklen Augen gut an, nicht nur bei Männern.
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In Toss schneite es am andern Morgen immer noch, das Wetter hatte sich in der Nacht wieder verschlechtert. Ein kalter Wind trieb die Schneeflocken waagrecht vor sich her. Wer konnte, blieb zu Hause und verkroch sich hinter dem Ofen. Trotz des schlechten Wetters war Gian mit den Skiern ins Tal gefahren und hatte dafür gesorgt, dass Sophie mit dem Pistenfahrzeug bis zum Oberwald hochgefahren wurde. Dort hatten sich Sophie und Gian die Skier angeschnallt und waren auf dem alten Forstweg durch den Wald ins Dorf gelangt, der einzigen, beschwerlichen Route der Einheimischen ins Dorf, wenn die Strasse gesperrt blieb. Ich stand am Fenster und schaute zu, wie Gian und Sophie sich vor der Casa verabschiedeten. Zwei dick eingepackte, schneebedeckte Figuren, diejenige mit dem riesigen Rucksack musste Sophie sein. Gian grüsste mit dem Skistock zu den Fenstern hin und zog weiter. Ich ging hinunter zum Eingang, mit einem seltsamen Gefühl im Magen, voller Erwartung auf die neue, alte Freundin aus weit zurückliegenden Zeiten.
Sophie trug eine knallrote Skijacke, hellblaue Hosen und eine gelbe Mütze. «Die Freude an bunten Farben hat sie sich bewahrt», schoss mir durch den Kopf. Mit dem Reisbesen, wie er im Dorf vor jeder Türe stand, fegte sie sich den Schnee von den Skistiefeln, klopfte ihn von den Kleidern. Ich öffnete die Türe vom Windfang, nahm ihr den Rucksack ab.
«Willkommen zu Hause!» Mehr kam mir nicht in den Sinn.
«Du hier! Ich glaube es nicht! Deshalb klang deine Mutter so geheimnisvoll am Telefon! Wie schön, dich zu sehen!»
Wir umarmten uns. «So lange ist es her, ewig!»
«Ich habe dich vermisst», flüsterte ich und roch an Sophies Haaren.
Sophie stützte sich auf meine Schulter und stieg aus den klobigen Skistiefeln, rieb sich die kalten Füsse. Dann wand sie sich aus Überhose und Windjacke, Schals und dicken Pullovern. Mit jeder Schicht verwandelte sich die dick gepolsterte Skifrau wieder in die zierliche, drahtige Gestalt Sophies, die ich in Erinnerung hatte.
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