So lebte Sophie mehr oder weniger zufrieden in Bern. Ab und zu telefonierte sie mit ihrer Mutter. Die Gespräche waren meist sehr kurz. Hatte sie zufällig ihren Vater am Telefon, was selten genug vorkam, brummelte er etwas wie: «Hoffentlich geht's dir gut, Söfel – melde dich wieder.» Söfel durfte nur ihr Vater zu ihr sagen, das war sein Privileg. Kari Anderegg mochte eigentlich gar nicht so genau wissen, was seine Tochter arbeitete. Er liess sie gewähren. Oft teilte er seine Sorgen um Sophie Gian mit, und dieser lachte meist: «Was machst du dir für Sorgen, mit ihrem harten Tosserkopf wird sich Sophie überall durchsetzen. Hör auf zu grübeln und nachzudenken. Die wird es noch weit bringen.»
Sophies Arbeit in der Bar begann jeweils um siebzehn Uhr und dauerte meistens bis in die frühen Morgenstunden. Tagsüber schlief sie bis in den Nachmittag hinein. Dieser Rhythmus tat ihr gar nicht gut, sie wusste es. Der Alkohol wurde ihr ständiger Begleiter, der immer mehr Platz einnahm.
«So kann das nicht weitergehen mit mir», beschloss sie eines Tages, als sie mit einem Brummschädel erwachte. Sie fühlte sich elend und leer und kehrte bald einmal der Mugglibar und dem Nachtleben den Rücken zu. Ein neuer Job musste her, aber wo? Sophie fand einen als Kassiererin im Coop, aber auch hier würde sie es nicht lange aushalten. Dies wusste sie schon, als sie ihren ersten Arbeitstag beendete. Das stundenlange Sitzen in der engen, zügigen Kabine machte ihr wenig Spass, und die mürrischen Kunden nervten sie bald einmal. Im Grunde genommen war es wie im Schuhladen, nur dass ihr am Abend nicht die Beine wehtaten, sondern der Rücken. Sophie schien rastlos und ständig auf der Suche nach dem richtigen Job, auf der Suche nach dem Glück, nach dem richtigen Partner und gleichzeitig auch noch nach dem Sinn ihres Lebens zu sein. Jeder mochte sie, die Leute fassten gleich Zutrauen zu ihr. Mit ihrer humorvollen und quirligen Art fand sie sich jeweils schnell in einem Job zurecht, sie war sich für keine Aufgabe zu schade. Doch was nützte es ihr, wenn sie in ihrem Herzen unglücklich war? Ihre wahre Berufung hatte sie noch nicht gefunden. «Ich jage wohl ein Leben lang einem Traum nach», stellte Sophie immer wieder fest.
Als sie damals erwog, nach Bern zu ziehen, hatte sie Glück. Jakob vermittelte ihr ein einfaches Zimmer bei Bekannten im Breitenrainquartier. Zwar bot ihr Mutter Erler ein Zimmer in ihrem Haus in Wabern an, doch Sophie lehnte dankend ab. Es war ihr zu nahe bei Jakob, zu nahe bei den Erlers und damit zu nahe bei der Familie in Toss. «Du wirst immer ein Zimmer bei uns haben», äusserte sich Martha Erler damals. Sie sorgte sich um die junge Frau, behielt es aber für sich.
Doch Sophie entschied sich für die einfache Bleibe bei Frau Meister, die Jakob ihr empfohlen hatte. Das einfache Zimmer war mit einem breiten Bett, einem alten Bauernschrank, einem Stuhl und einem kleinen Tisch möbliert. Sophie kannte nichts anderes. Es war ein heller Wohnraum, und die Aussicht auf die Stadt liess Sophies Herz jedes Mal höher schlagen, wenn sie am Morgen zum Fenster hinausblickte. Bad und Küche durfte sie mitbenutzen. Die Schlummermutter, Rosina Meister, eine herzliche, ältere Dame, genoss es, mit jungen Menschen zusammen zu sein.
Sophie beglich die Miete pünktlich, es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich nach einem anderen, besseren Zimmer umzusehen. Es gefiel ihr bei Frau Meister, bei ihr fühlte sie sich geborgen, ohne zu viel Familienanschluss zu haben, der ihre Freiheiten einschränken würde. Manchmal sassen die beiden Frauen gemeinsam am Küchentisch, und Sophie erzählte Frau Meister von ihrem Alltag, von ihren Sorgen und Nöten.
Ab und zu traf sie sich mit Martha Erler zu einem Tee, dies wurde jedoch immer seltener, je besser sich Sophie in der Stadt zurechtfand. Zudem lebte die Familie Erler neuerdings immer öfter in Toss, wo sie im Hause Anderegg die Ferienwohnung mietete.
Eines Abends kam Sophie ziemlich müde und niedergeschlagen von ihrem freien Tag nach Hause. Sie war missmutig durch die Stadt gebummelt, hatte sich eine neue Frisur machen lassen und hatte sich Dinge gekauft, die sie gar nicht brauchte. «Frustshoppen», dachte sie, als sie ihre Einkäufe auspackte.
Sophies Gedanken wanderten immer öfter nach Toss, doch ihr Stolz würde es nicht zulassen, wieder ins Dorf zu ziehen. Sie war froh, als sie Frau Meister vor dem Haus begegnete.
«Guten Abend, Frau Meister, haben Sie einen Moment Zeit für mich?», rief sie ihrer Schlummermutter zu.
«Wohl viel Geld ausgegeben heute bei den vielen Tüten?», stellte Rosina Meister schmunzelnd fest.
«Klar habe ich Zeit für Sie. Was gibt's? Ärger im Geschäft? Schwierigkeiten mit den Männern? Weltuntergangsstimmung?»
«Nichts geht mehr, nicht vorwärts, nicht rückwärts. Ich habe den Eindruck, mich im Kreise zu drehen», gab Sophie zu.
«Wird wohl nicht so schlimm sein.»
«Das kann auf die Länge nicht so weitergehen. Ich jobbe herum, habe keinen Beruf, komme keinen Schritt weiter. Fühle mich unzufrieden, und es ist nur noch mühsam.»
«Das ewige Hin und Her ist tatsächlich nichts für Sie, da haben Sie Recht.»
«Aber Frau Meister, ich muss meinen Lebensunterhalt bestreiten, und in meinem Alter beginnt man nicht einfach mit einer Lehre.»
«Wieso nicht? Die Sophie Anderegg findet eine Lehrstelle, wenn sie das will.»
«Ich weiss nicht so recht.» Sie fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken ihrer neuen Frisur. Ein Besuch beim Coiffeur gab ihr das Gefühl, jeweils den ersten Schritt zu einer Veränderung gemacht zu haben, auch wenn dies meist unbewusst geschah.
«Ach, kommen Sie, machen Sie nicht so ein griesgrämiges Gesicht, das passt eh nicht zu Ihnen und zu Ihrer neuen Frisur. Haben Sie Lust auf ein Glas Wein?»
«Aber nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht.»
Frau Meister lachte abermals und zog sie in die Küche.
Die gemütliche Küche erinnerte Sophie an ihr Zuhause in Toss, und sie fühlte sich hier ausserordentlich wohl.
«Setzen Sie sich doch», forderte Rosina Meister sie auf.
Frau Meister entkorkte einen Weissen, stellte etwas Käse und Brot auf. Sie füllte die beiden Gläser. «Auf Ihr Wohl, Sophie.»
«Danke, Frau Meister, das ist wirklich lieb von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.»
«Ist doch selbstverständlich, Sophie.»
«Um ganz ehrlich zu sein, am liebsten würde ich in einem Reisebüro arbeiten oder eine Lehre als Fotografin absolvieren. Aber entweder gibt es keine Stelle oder ich bin sicher schon viel zu alt dafür.»
Frau Meister lachte nicht, betrachtete Sophie aufmerksam, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Sophie mochte die Gespräche mit der kleinen, rundlichen Frau sehr. Sie war nicht aufdringlich und neugierig, sie war bescheiden und liess Sophie gewähren. «Aber Sophie», nahm sie das Gespräch wieder auf. «Man ist nie zu alt, um etwas zu lernen.» Wieder sah sie Sophie nachdenklich an.
«Hmm ...», erwiderte Sophie nur. Sie sassen nun schweigend am Tisch und genossen den süffigen Wein.
«Fragen Sie doch einfach mal in einem Reisebüro oder bei einem Fotografen nach, ob sie eine Stelle als Praktikantin frei hätten», sagte Frau Meister übergangslos.
«Wie stellen Sie sich das vor? In meinem Alter?»
«Wo sind nur Ihr Mut und Ihre Frechheit geblieben?»
«Stimmt, da haben Sie Recht. Nicht überlegen, einfach machen», erklärte sie wild entschlossen.
«Abgemacht, Frau Meister, gleich morgen mache ich mich auf die Suche nach einem Praktikum, und das Erstbeste, was mir begegnet, nehme ich.»
«Aber nicht den Erstbesten», scherzte Rosina Meister.
«Prost.»
Sophie fühlte sich schon wieder etwas besser. Ob es am guten Weissen lag oder an der guten Idee, etwas zu unternehmen, ein Praktikum zu suchen, wusste sie nicht. Egal. Sie fühlte sich lebendig und unbeschwert, das hatte sie lange vermisst. Sie wäre nicht Sophie Anderegg, wenn sie dies nicht packen würde. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es für sie kein Halten mehr. Was würde Jakob dazu sagen, wenn er wüsste, wie sie jetzt voller Tatendrang war? In solchen Momenten vermisste sie Jakob.
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