Ich erinnere mich, wie ich den Nachmittag als peinlich empfand. Mutter schwärmte von früher, als wir noch so herzige Buben und Mädchen waren, in den Sommerferien in Toss. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, die alten Familienfotos hervorzukramen. Sophie lächelte höflich und zwinkerte mir verstohlen zu. Als wir uns endlich loseisen konnten und wieder auf der Strasse standen und zum Küchenfenster zurückwinkten, fragte Sophie: «Gehen wir noch irgendwohin?»
Wir bummelten durch das stille Wohnquartier mit den gepflegten Gärten und den aufgeräumten Vorplätzen, Richtung Stadtzentrum. Ab und zu rollte ein Auto vorbei. «Hier ging ich zur Schule, das war mein Schulweg. Wir konnten auf der Strasse Fussball spielen.»
Sophie lachte: «Das konnten wir auch, im Dorf. Aber ich habe mich immer nach der Stadt gesehnt, wenn du mir davon erzählt hast. Und jetzt, wo ich hier bin, fehlt mir das Dorf.»
«Erinnerst du dich an Gian, Gian Piatt?»
«Gian, natürlich erinnere ich mich an Gian. Irgendwie schien er mir nicht wie die anderen Dörfler zu sein? Ein listiger Kobold, so nannte ihn Vater.»
«Gian ist ein Schatz, er hat es mit uns Kindern immer gut gemeint. Im Winter, wenn der Schneepflug noch lange nicht bei uns im Dorf oben war, schaufelte er uns den Weg zum Schulhaus frei. Neuerdings erteilt er den Feriengästen Skiunterricht. Am liebsten den Frauen, und die gehen gerne mit ihm auf eine einsame Tour durch die verschneiten Wälder.»
«Toss wird ja richtig eine mondäne Destination», lachte ich, «und du, Sophie, willst du nicht auch Skilehrerin werden?»
«Gian würde sich bestimmt darüber freuen», sagte sie, «trotz der Konkurrenz.» Sophie schwieg lange. Unten an der Aare, mitten auf dem Schönausteg standen wir uns gegenüber. Sophie nahm meine Hand, spielte mit meinen Fingern. Ihre Augen leuchteten schelmisch.
«Nein, Jakob, niemals! Toss ist für mich weit weg. Obwohl, wenn ich so überlege, dir könnte ich wohl noch einiges beibringen, damit du es auch einmal ins Tal schaffst, ohne Badewannen in die Piste zu drücken.»
Ein kalter Wind liess die Herbstblätter über die Bohlen rascheln. Eine Ente schnatterte, ein Velofahrer schob sein Rad über die Brücke. Sophies brave Zöpfe, deren Bild ich als Erinnerung in mir trug, waren einer wilden Strubbelfrisur gewichen. Ich verspürte Lust, mit den Händen durch die Haare zu fahren wie der Wind durch das Herbstlaub, nach längst vergessenen Heuhalmen zu suchen.
«Du bist gross geworden, und schön!», erwiderte ich stattdessen mit einer Stimme, die mir rau und fremd vorkam.
«Fang du jetzt nicht auch noch damit an!» Sophie gab sachte Druck auf die Hand. Ich erwiderte ihn, so gut es ging. Doch Sophie hatte nichts von ihrer Kraft eingebüsst und gewann unser kleines, vertrautes Spiel.
Sophie hakte sich bei mir unter, lehnte sich an meine Schulter. Wir nahmen unseren Weg wieder auf.
«Was machst du hier in der Stadt?»
«Ich musste einfach weg aus Toss. Das Dorf wurde mir zu eng, die Leute schienen mir zu alt. Jeden Weg war ich bereits hundertmal gegangen, ich kannte jeden Stein. Jede Woche sah gleich aus, jedes neue Jahr war eine genaue Kopie des vergangenen. In die Stadt, eine Ausbildung machen, Sprachen lernen, Reisebüro, reisen, die Welt sehen, ich wollte alles auf einmal. Pluff, alles ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Bis ich weiss, wie 's weitergeht, jobbe ich hier und dort, um mich über Wasser zu halten.»
Sophie schien nicht im Geringsten verlegen. «Der Vater weiss noch nichts davon, es war schon ein Krampf, bis er mich ziehen liess. Gian hat mir geholfen, den Vater umzustimmen. Er hat gesagt: Anderegg, lass die Jungen ziehen, was kannst denn noch bieten, hier oben? Die müssen in die Welt, sonst bleiben sie ewig hier oben hocken.
Für uns war's immer noch gut genug, brummelte der Vater, nickte aber schlussendlich: Geh halt, Söfel, wenn's sein muss. Aber der Mutter habe ich es gebeichtet. Die Brüder werden mich auslachen, sie haben's ja schon immer besser gewusst. Sollen sie.»
Sophies Augen blitzten trotzig. «Und du?»
«Meine Eltern möchten, dass ich Ingenieur werde, und später soll ich das Büro vom Vater übernehmen. Transportanlagen aller Art. Wir bewegen alles, Ihr Transportproblem wird garantiert gelöst, Erlerwort. So einfach ist das.»
«Und willst du das?»
«Ich weiss nicht. Nein, eigentlich nicht. Ist egal.»
Wir bummelten schweigend dem Fluss entlang, immer den vertrauten Turm des Berner Münsters vor uns. In einem herbsttrüben, leeren Restaurant am Ufer des Flusses tranken wir einen lauwarmen Kaffee. Die Nussgipfel in der Kunststoffbox schienen ebenso missmutig trocken wie die Bedienung. Draussen lag alles grau in grau, und es dunkelte früh.
•••••
Sophie blickte auf bewegte Jahre zurück. Sie würde Jakob viel zu erzählen haben von ihrem Weg aus Toss hinein ins Leben. Sophie freute sich auf das lang ersehnte Skiwochenende, endlich wieder einmal dem Stadtalltag entfliehen und in die Berge abhauen, in den Schnee eintauchen, viel Schnee.
«Wie es wohl Jakob gehen mag?» Hoffentlich würde sie ihm in Toss begegnen. Es war wie verflixt: Je näher man wohnte, desto seltener sah man sich. Sophie würde seine Mutter anrufen, um sicher zu sein, dass Jakob ebenfalls in Toss war.
Ihr Verlangen, Jakob zu sehen, war in den letzten Monaten stets grösser geworden.
Während der Dauer, die sie mit Max zusammen verbrachte, hatte sie für nichts und niemanden anderen mehr Zeit gefunden. Sie verschwendete kaum einen Gedanken an Toss und an Jakob. Ja, sie war glücklich, und ihr Job in Zürich beim Reisebüro Maruc Travel füllte sie vollständig aus.
Als Sophie von Toss nach Bern zog, wusste sie nicht, was sie alles erwarten würde. Sie begann eine Lehre als Schuhverkäuferin. Bereits nach einem halben Jahr gab sie diese wieder auf, denn das Herumstehen im Laden und die geheuchelte Freundlichkeit waren nicht nach ihrem Geschmack. Es war definitiv nicht ihr Metier und nur als Notlösung geplant gewesen. Eigentlich hätte sie gerne ihrer Leidenschaft nachgelebt und wäre lieber Fotografin oder Reiseleiterin geworden, aber eine Lehrstelle war nicht zu finden, und so gab sie ihren Traum bald einmal enttäuscht auf. Vater Anderegg war nicht gerade begeistert, als sie ihm stockend mitteilte, dass sie ihre Lehre abbrechen würde. Die Familie Anderegg war nicht auf Rosen gebettet, und die Unterstützung für Sophie fiel bescheiden aus. Kari Anderegg gab nach dem Lehrabbruch seiner Tochter unmissverständlich zu verstehen, dass sie von jetzt an selber für sich zu sorgen hatte. Immerhin wusste Kari, dass seiner Sophie bei Familie Erler für den Notfall ein Zimmer zur Verfügung stand. Sollte aus Sophie nichts Rechtes werden, würde dies Kari wohl nur schlecht verkraften. Und hätte er geahnt, dass seine Tochter nach dem Lehrabbruch in einer Bar arbeitete, wäre er nicht gerade begeistert gewesen. Klar betrachtete Kari wie alle im Dorf die hübschen, langen Beine der Serviertochter im Hirschen, allerdings war das selbstverständlich ganz etwas anderes. Und seine Tochter war für Besseres geboren, als sich von Männern in Kneipen anmachen zu lassen.
Sophies erster Barjob führte sie als Aushilfe in das Berner Mattequartier, in die Crazybar. Sie lernte, auf die Gäste einzugehen, Betrunkene abzuwimmeln, ein Auge auf den Umsatz zu halten, sie lernte sogar, geduldig zuzuhören.
Nach knapp einem Jahr wurde es ihr in der Crazybar zu langweilig. Sie wechselte in die elegantere Mugglibar an der Gerechtigkeitsgasse. Jeder mochte die schlagfertige und lebenslustige Sophie, die stets einen Spruch auf den Lippen hatte und wusste, was bei den Gästen ankam. Bern schien ihre zweite Heimat zu werden, es gefiel ihr ausgezeichnet. Sie fühlte sich wohl in dieser kleinen, behutsamen Stadt. Nach Toss würde sie bestimmt nicht mehr zurückkehren, nie mehr! Die Berge, die Leute, die Umgebung, ihr war dies alles zu eng geworden. «Wir haben es immer gesagt, Sophie ist ein Fegnest. Sie hält es nirgends lange aus und wird wohl an keinem Ort Sitzleder haben», tuschelten die Leute hinter ihrem Rücken. Vermutlich hatten sie mit ihrem Getuschel sogar Recht.
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