Das erste, was er sah, war ein besorgtes Gesicht, das sich über ihn beugte.
„Leonard? Bist du wieder da? Was ist denn los? Hattest du einen Schwächeanfall?“
Jack reichte seinem Freund die Hand, die Leonard dankbar annahm.
Er stemmte sich in die Höhe.
„Ist schon gut, ich bin okay…“, antwortete er etwas in sich verkehrt. Vor seinem geistigen Auge spulte er die letzten Sinneseindrücke zurück. Seine Augen wurden immer größer, je mehr ihm alles klar wurde. Es war wie ein Groschen, der in Zeitlupe zu Boden fällt. Die Bilder hatten plötzlich Erinnerungen in ihm hervorgeholt, und jetzt sprudelten die Wörter nur so aus Leonard heraus.
„Hör mal Jack, hör mir jetzt genau zu! Ich erinnere mich jetzt wieder! Vor ein paar Tagen wurde ich von drei Männern überfallen. Einer davon beschuldigte mich des Mordes an seiner Frau und sperrte mich in seinen Keller.“
„Wirklich?! Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wie konntest du denn so was Wichtiges vergessen? Und wodurch konntest du sie von deiner Unschuld überzeugen?“
Jack schoss offenbar alle Fragen ab, die ihm einfielen.
Leonard dachte angestrengt nach und durchforstete sein Gehirn. Ohne Erfolg.
„Keine Ahnung. Das sind genau die zwei Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Einen Moment.“ Leonard war plötzlich etwas eingefallen.
„Was denn? Erinnerst du dich wieder an etwas?“, fragte Jack sichtlich aufgeregt.
Leonard antwortete mit gerunzelter Stirn: „Am nächsten Tag hatte ich alles wieder vergessen. Ich erwachte morgens in meinem Bett und machte mit Conny einen Einkaufsbummel, als wäre nichts geschehen.“
Beide sahen sich an.
„Komisch…“, meinte Jack. Nach langem Zögern fügte er hinzu:
„Ich frag` ja nur ungern aber… Was hat das hiermit zu tun?“
„Nun, beim Entführer meiner Frau handelt es sich um denselben, der mich in den Keller gesperrt hat. Höchstwahrscheinlich. Er heißt Jim, wenn ich mich nicht irre.“
„Ah“, machte Jack und nickte langsam mit dem Kopf.
„Hatte ich das nicht erwähnt?“, fragte Leonard verwundert.
„Nein.“
„Ach.“
„Ein kleines Detail, das alles irgendwie verständlicher macht und die Situation gleichzeitig verschlimmert.“
„Du sagst es.“
„Dann hattest du ja wirklich Recht mit deiner Vermutung! Hey, aus der Sicht von Jim hast du also nicht nur seine Frau, sondern auch seinen Bruder auf dem Gewissen! Mann, muss der eine Mordswut auf dich haben, Alter!“ Jack pfiff durch die Zähne und grinste. „Was für eine Ironie. Und dabei hast du keinen Einzigen umgebracht.“
„Ich finde das gar nicht lustig.“
Leonard drehte sich auf dem Absatz herum und steuerte Jacks Haus an.
„Entschuldige, Mann. Du brauchst doch nicht direkt den Beleidigten spielen“. Jack zuckte mit den Schultern, „ich schätze, ich bin doch noch ein wenig wegetreten vom Alkohol.“
„Schätze ich auch“, erwiderte Leonard trocken, ohne sich umzudrehen.
„He, wohin gehst du?“, rief Jack ihm nach.
„Bin gleich zurück!“ Drei Augenblicke später war er wieder da, mit einem hölzernen Knüppel in der Hand. Er sah etwas mickrig aus. Für meine Zwecke reicht es.
„Wo hast du denn den her?“
„Ein Bein von deinem kaputten Tisch. Irgendwie muss ich mich ja bewaffnen, und den brauchst du doch bestimmt nicht mehr, oder?“
Jack schüttelte den Kopf. „Du kannst dich ruhig bedienen.“
Leonard stieg in den Wagen und legte seine neue Waffe auf den Rücksitz. Als Jack sich auf den Beifahrersitz schmiss, fuhr er schon mit Vollgas los.
„He, ich hatte die Tür noch nicht richtig zu! Diese paar Sekunden könntest du doch sicher für mich erübrigen, oder?“, rief sein Freund aufgebracht. Mit einem lauten Knall schmiss er die Tür zu.
Leonard antwortete nicht. Für ihn war jetzt nur noch eines wichtig: Seine Conny befreien.
Er wusste nicht, wie er in solch eine verrückte Situation geraten war, aber eines war sicher: Conny hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er musste Jim von seinem Irrtum überzeugen und dafür sorgen, dass Conny kein Haar gekrümmt wurde.
Er war natürlich bereit, sein Leben für sie zu riskieren. Doch das würde er zu verhindern wissen.
Ich kann Conny sicherlich auch befreien, ohne gleich draufzugehen.
Die Beiden waren erst zwei Minuten unterwegs, als Jack auch schon den Arm ausstreckte und auf ein Haus zeigte.
„Da! Da hinten ist das Haus!“
Leonard nickte und parkte das Auto vor einem kleinen, unscheinbaren Gebäude.
Er atmete tief ein und aus. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.
Jack befreite sich von seinem Sicherheitsgurt und betrachtete seinen Freund.
„Bist du bereit für die Höhle des Löwen? Du siehst so blass um die Nase aus.“
Leonard nickte und verließ den Wagen. Er nahm seine Waffe vom Rücksitz und ging mit entschlossenen Schritten zur Haustür.
„Soll ich mitkommen und dir beistehen?“, rief Jack ihm nach.
Leonard schüttelte den Kopf und erwiderte: „Bleib du lieber hier im Wagen. Wenn du Lärm im Haus hörst, kannst du mir zu Hilfe kommen oder die Polizei rufen.“
Jack blinzelte. „Geht klar. Viel Glück!“
Leonard nickte dankbar. Er wurde immer ruhiger.
Angst, Unschlüssigkeit und Furcht waren wie weggeblasen. Zurück blieb eine eiskalte und kompromisslose Entschlossenheit. Er trat nun vollends durch die Haustür. Wird schon schiefgehen.
Seine Umgebung nahm er gar nicht wahr. Sein Fokus reduzierte sich auf die Person, die Leonards Leben in den letzten Stunden auf den Kopf gestellt hatte. Der Mann saß in der Küche am Tisch und schlürfte gerade an einem Kaffee. Als Leonard durch die Tür trat, ohne zu klingen, stand Jim langsam auf. Es sah irgendwie bedrohlich aus. Er kniff die Augen zusammen und sah ihn an.
„Nicht gerade höflich, einfach ohne anzuklopfen hier rein zu stolpern. Aber wissen Sie was? Es wundert mich nicht einmal. Passt zu Ihnen.“
„Nun ja, es war keine Klingel angebracht und da dachte ich, …“
„Schon gut, schon gut!“
Leonard blinzelte. Sprechen wir hier wirklich über sowas Wichtiges wie Unhöflichkeit?
„Und was wollen Sie mit diesem lächerlichen Ding da?“, er zeigte auf seine Waffe in der Hand, „wollen Sie mich damit etwa totschlagen?“
Leonard kam nicht dazu, etwas zu erwidern.
Jim fing an, leise zu kichern.
„Haben Sie vielleicht Nerven! Sagen Sie, wissen Sie, wie spät es ist?“ Er schaute auf die Uhr und nahm die Hand in einer theatralischen Geste vor den Mund. „Es ist neunzehn Uhr achtundzwanzig!“
Leonard‘ s Herz rutsche in die Hose. Verdammte Scheiße! Ich habe total vergessen, auf die Zeit zu achten!
Seine Ruhe und Beherrschung waren wie weggeflogen.
„Wo ist meine Frau? Was haben Sie mit ihr gemacht?“, Er wurde immer lauter und machte einen drohenden Schritt nach vorne. „Wenn Sie ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, …“
„Was dann?“ Jim wartete lauernd auf eine Antwort.
Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe. Leonard zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. „Ich werde alles mir in der Macht Stehende tun, um Conny zu befreien. Und wenn ich Sie dafür töten muss!“
Jim war nicht sonderlich beeindruckt von Leonards Drohung.
„Das würde Sie nicht viel Überwindung kosten, oder? Ein Leben mehr oder weniger, das auf Ihr Konto geht, nicht wahr? Aber weißt du was? Mir bedeutet ein Menschenleben viel. Es ist kostbar und jedes einzelne ist einzigartig. Deshalb würde ich nie einen Mord begehen. Doch bei dir könnte ich eine Ausnahme machen, weißt du? Nachdem du praktisch all meine Verwandten ausgelöscht hast, habe ich keine Hemmungen mehr, dich auszulöschen.“
Читать дальше