Jetzt hatte er freie Bahn. Er grinste triumphierend.
Gut für das eine Mal. Sowas kann auch leicht ins Auge gehen , ermahnte er sich selbst.
Sein Ziel erreichte er zehn Minuten früher als gedacht. Leonard parkte sein Auto vor einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus und hastete zur Tür. Er klingelte. Er wartete zwei Minuten. Vier Minuten. Er klopfte an die Tür, die sich daraufhin von selbst öffnete. Sorge regte sich in ihm. Mit gerunzelter Stirn trat er langsam durch die Tür.
Er stand im Wohnzimmer seines Freundes Jack. Scherben lagen auf dem Boden, zwei Stühle waren umgekippt auf dem Boden, eine Vase lag auf einem kleinen, hölzernen Tisch. Ein kleiner Windstoß würde genügen, um sie auf den Boden fallen zu lassen. Sogar ein Tischbein war aus dem Tisch herausgerissen worden.
Der Kamin war an. Das Feuer, das normalerweise für eine behagliche Atmosphäre sorgte, löste in Leonard ein unbehagliches Gefühl aus. Da es draußen so langsam dunkel wurde, warfen die Flammen zahlreiche abstrus geformte Schatten auf die vier Wände. Das Chaos im Wohnzimmer festigte sein ungutes Gefühl noch.
Ein Mann saß in einem Sessel vor dem Kamin und hatte ihm somit den Rücken zugewandt. Leonard erkannte ihn anhand seines roten Schopfes als seinen dreißig Jahre alten Freund.
Er räusperte sich:
„Jack? Ich bin‘s, Leonard.“
Keine Antwort. Dann hob sein Freund eine Flasche und führte sie zum Mund.
„Hör mal, was ist denn hier eigentlich los?“, drängte Leonard. Ihm lief die Zeit davon.
Langsam stand Jack auf und drehte sich zu ihm um. Er hob seine Arme und zeigte damit um sich herum.
„Das siehst du doch, oder?“ Seine Stimme lallte ein wenig.
„Bist du etwa blau?“
„Noch nicht, aber bald.“ Jack grinste und setzte zu einem weiteren Schluck an. Doch Leonard
sprang einen Satz nach vorne und entriss sie ihm.
„He, was soll das?“, protestierte Jack und schnappte nach der Flasche in Leonards Hand. Seine Bewegung war dermaßen unkoordiniert, dass er das Gleichgewicht verlor und sich an Leonards Schulter klammerte, um nicht umzufallen.
„Hör auf, solchen Fusel zu trinken! Du hast doch noch nie Alkohol getrunken. Warum fängst du gerade jetzt damit an?“
„Irgendwie muss man sich doch zu helfen wissen, oder?“
„Wie meinst du das?“
Jack‘ s Gesicht verdunkelte sich zusehends. Seine Schultern sackten herab und er ließ sich müde in seinen Sessel fallen. Er hatte ein rundes Gesicht mit fliehendem Kinn, eine tiefe, breite Stirn und kleine, grüne Augen. Seine Haare waren ein wirres Durcheinander aus dicken, roten Haaren, die ihm bis über Stirn hingen. Eine Haarbürste war für ihn ein Fremdwort.
„Lea und ich hatten… Zoff. Dann ist sie zur Tür raus und weg war sie.“
„Oh, das tut mir leid.“ Leonard erinnerte sich: Lea war Jacks‘ Freundin, sie waren schon über fünf Jahre zusammen.
Betretenes Schweigen legte sich um die Beiden.
Leonard wollte ihn schon fragen, ob Lea auch handgreiflich während ihrem Streit geworden war, überlegte es sich dann anders. Das Wohnzimmer erzählte seine eigene Geschichte. Stattdessen schüttelte er den Kopf und sagte bedächtig:
„Du weißt, dass Alkohol keine deiner Probleme lösen wird, Jack.“
Jack antwortete nicht. Stattdessen starrte er ins Nichts und war höchstwahrscheinlich gerade weit weg mit seinen Gedanken. Dann, endlich erwachte er aus seiner Starre und blickte Leonard geradewegs in die Augen.
„Hey, warum bist du überhaupt hier?“
„Nun ja, ich…ich habe ein kleines Problem. Es ist etwas geschehen.“
Leonard räusperte sich. Es laut auszusprechen machte es nur noch realistischer.
„Meine Frau wurde entführt.“.
Jack starrte ihn groß an. „Verdammt, ist das dein Ernst?“
Leonard nickte und zeigte ihm den Zettel. Dann teilte er ihm mit zittriger Stimme seinen Verdacht mit, obwohl er weit hergeholt war.
Als er fertig war, musste er an sich halten um sich unter Kontrolle zu halten. In ihm toste ein
Sturm von Gefühlen. Ohnmächtige Wut gegenüber dem Entführer, Angst um seine Frau und Machtlosigkeit rangen miteinander. Er biss sich nervös auf die Unterlippe, als er fertig mit erzählen war.
„Okay, jetzt beruhig` dich erst mal, klar? Das wird schon wieder.“ Jack stand auf und wollte ihm beruhigend den Arm um die Schulter legen. Doch Leonard entzog sich ihm und erwiderte aufgebracht:
„Verstehst du denn nicht? Ich kenne den Entführer nicht einmal! Also kann ich mich auch nicht mit ihm in Verbindung treten.“
Jack unterbrach ihn. „Hör mal, du hattest doch die Vermutung, dass es sich bei dem Entführer um die Person handelt, dessen Bruder getötet worden war, nicht wahr?“
„Das war bloß eine Vermutung, aber ja. Wieso?“
„Na dann haben wir doch unsere Spur, oder nicht?“ Jack wirkte sehr zuversichtlich, als er seine staubbefleckte Jacke vom Boden aufhob und auf die Tür zusteuerte.
„Wo willst du hin?“
„Na hoffentlich zu Conny.“
„Und woher weißt du, wo der Mann wohnt?“
„Vor ein paar Tagen war das Haus doch in den Nachrichten gezeigt worden, nicht wahr?“
Leonard nickte.
„Ich habe das Haus sofort wiedererkannt. Es befindet sich hier, im selben Dorf.“ Jack verließ das Haus mit Leonard auf den Fersen. Er zeigte mit dem Zeigefinger auf die Straße.
„Dort hinter der Kurve müsste es irgendwo sein.“ Er schaute Leonard erwartungsvoll an.
„Fährst du?“
Leonard hob die Arme. „Was, jetzt? Du willst jetzt zu diesem Kerl fahren? Muss man nicht erst mal Pläne schmieden, oder sowas?“
Jack zuckte mit den Schultern. „Was soll man denn groß schmieden?“
„Keine Ahnung. Doch wir können dich nicht einfach dorthin fahren, anklopfen und fragen, ob jemand meine Frau entführt haben. Klingt doch bescheuert oder nicht?“
„Klar, so wie du es sagst…Nun komm schon und hab dich nicht so.“
Jack stieg in den Wagen, dabei fiel Leonard auf, dass er das Auto vorhin gar nicht abgesperrt hatte. Nun ja, wer will schon einen Schrottwagen klauen…
„Hey, was ist überhaupt mit deiner Karre passiert?“, fragte Jack und deutete mit dem Finger auf den fehlenden Rückspiegel an der Fahrerseite. Er schien Leonards Gedanken gelesen zu haben.
Jetzt zuckte Leonard mit den Schultern. „Ein kleiner Zwischenfall. Aber lenk nicht ab! Wenn ich tatsächlich Recht mit meiner Vermutung habe, gehen wir jetzt zu jemandem, der stinkwütend auf mich ist. Ich muss mich wenigstens irgendwie bewaffnen, verstehst du?“
„Wenn du glaubst …“
Jack’ s Gelassenheit machte Leonard wahnsinnig.
„Mir scheint, dir ist der Ernst der Lage gar nicht richtig bew –“
Er erstarrte. Ihm schien, dass er gerade ein Déjà-vu erlebte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass jemand ihm vor gar nicht langer Zeit genau das Gleiche gesagt hatte. Er horchte in sich hinein um sich daran zu erinnern. Sein Instinkt sagte ihm, dass es mit den aktuellen Geschehnissen zusammenhing.
Jack bemerkte die plötzliche Abwesenheit bei Leonard. „Hey, was ist los?“
Leonard wollte schon antworten. „Nichts, ich…“
Er sah plötzlich ein Gesicht vor seinem geistigen Auge. Es glich den „Erscheinungen“, die er vor ein paar Tagen schon gehabt hatte. Das Gesicht war ganz dicht an seinem. Es war vor Zorn ganz verzerrt, der Mund formte stumme Wörter. Darauf folgte eine Flut von Bildern, die sich über Leonard ergossen. Er konnte ihnen bald nicht mehr folgen, so schnell ging ein Bild in das Andere über. Er sah sich von Männern umringt, Handschellen, eine Faust, die auf ihn zugerast kam. Ein düsterer Keller, ein Schrei. Mein Schrei?
Völlig desorientiert musste er sich an seinem Auto aufstützen. Nach der gewaltigen Flut von Bildern fand er erst allmählich in die Realität zurück.
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