Der Mann drehte sich nicht einmal um, als er antwortete.
„Es ist nicht von Bedeutung, wer oder was wir sind. Tatsache ist jedoch, dass Sie ein gefährlicher Mörder sind, den die Polizei schon lange sucht. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehmen wir Sie anstelle der Polizei in Gewahrsam.“
„Da wir gerade davon sprechen, wen habe ich denn eigentlich umgebracht?“, fragte Leonard. Er dachte sich nichts dabei, doch die Reaktion seiner Entführer sprach für sich. Die zwei Männer vor ihm blieben abrupt stehen. Der Mittlere drehte sich zu Leonard um und sah ihm direkt in die Augen. Erbost brachte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor:
„Mir scheint, Sie verkennen den Ernst ihrer Situation. Wie können Sie eine solche Frage stellen? Ihre Opfer haben Sie grausam zugerichtet, und jetzt verleugnen Sie auch noch ihre Taten?!“ Der Mann wurde immer lauter und seine Augen blitzten gefährlich. Er kam Leonard so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Mit bebender Stimme fügte er hinzu:
„Sie feiges Miststück. Sie sind nichts weiter wert als ein Stück Dreck. Einem Serienmörder, der so ungerührt weiterlügt, sollte man das Gleiche antun wie seinen Opfern.“
Leonard wurde unsicher. Er hatte diese Anschuldigungen bis jetzt für unsinnig geraten, für einen schlechten Witz. Doch diesen Männern war es anscheinend todernst.
Der Mann fuhr ungerührt fort.
„Sie wollen wissen, wen Sie umgebracht haben. Also gut, ich sage es Ihnen. Unter Ihren Opfern befindet sich meine Frau. Vor genau einer Woche fand ich ihre Leiche; oder besser gesagt das, was von ihr übrigblieb.“
Leonard erstarrte. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Hören, Sie, e- es tut mir wirklich leid...“, stotterte der Angeklagte.
Der Faustschlag kam so unerwartet und so schnell, dass Leonard die Luft wegblieb.
Er stürzte zu Boden. Blut spritzte. Dieser Kerl hatte ihm tatsächlich einen Zahn ausgeschlagen. Er spürte, wie sein Gesicht an der Stelle, wo ihn der Faustschlag getroffen hatte, anschwoll.
Er stöhnte. Er lag auf dem Bauch, was sehr unbequem war, da seine Hände zwischen seinem Körper und dem Boden eingeklemmt waren. Der Mann war jetzt total aus der Fassung geraten. Er wollte sich wieder auf ihn stürzen, doch ein anderer hielt ihn zurück.
„Reiß dich zusammen, Jim! Ich verstehe dich ja, doch wir wollten doch kein Aufsehen erregen. Du kannst deine Wut ja später an ihm ausleben.“
Der Mann riss sich von seinem Partner los, maß Leonard noch ein letztes Mal mit einem hasserfüllten Blick und drehte sich dann um. Leonard rappelte sich wieder hoch, was gar nicht so einfach war und folgte den Männern schweigend. Es lag eine geladene Spannung in der Luft, die ihm plötzlich Angst einflößte.
Es war bereits später Abend und es war schon dunkel. Dieser Jim hatte Glück, dass ihnen kein Mensch begegnete. Doch Leonard bemerkte, dass er nur die schmalen Gassen wählte, in denen selten Menschen unterwegs waren.
Plötzlich hielten die Fremden an. Jim, so wurde er ja von den anderen genannt, drehte sich zu ihm um, mit einem Stück Stoff in der Hand. Er verband ihm damit ohne jede Vorwarnung die Augen.
Was zum Teufel…?
Leonard wollte anfangs protestieren, dann schluckte er seine Erwiderung im letzten Moment hinunter. Jetzt konnte er sowieso nichts gegen diese Leute unternehmen, also fügte er sich.
Sie gingen noch etwa fünf Minuten weiter. Leonard hatte schon längst die Orientierung verloren und ließ sich von den beiden Männern führen. Plötzlich hielten sie an.
Jim sagte kurz angebunden: “Vorsicht, Stufen“, und prompt stolperte Leonard auch schon. Der Mann hinter ihm lachte dreckig und schubste ihn weiter nach oben. Sie traten wohl in ein Haus, dann ging es eine, zwei Treppen hinunter. Jim löste Leonards Augenbinde und verließ das Zimmer, begleitet von seinen zwei Kumpanen.
„He, was soll das, ihr könnt mich doch nicht einfach hier…“, schrie Leonard ihnen hinterher. Doch es hatte keinen Zweck, die Tür fiel hinter Jim zu, dann hörte er das unverkennbare Geräusch eines Schlosses, das von außen verriegelt wurde.
Na super . Der Raum indem er sich befand, war dunkel. Nach zwei Minuten hatten sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte seine neue Umgebung auskundschaften. Der Raum hatte nur ein Fenster, und das war nur knapp zwei Zentimeter von der Decke entfernt, rechteckig, und sehr schmal. Er würde es nie schaffen, das Fenster zu erreichen.
Es wird immer besser . Er sah sich ein bisschen im Raum um. Er war groß, und war vollgestopft mit Regalen, Pappkartons, alten Möbeln und dergleichen. Da seine Hände nach wie vor mit den Handschellen gefesselt waren, konnte er gar nichts tun. Er machte es sich auf einer Couch bequem und überdachte seine Situation. Ach quatsch , verbesserte er sich aufgewühlt in Gedanken. Da gibt es gar nichts zu überdenken. Ich bin des Mordes verdächtigt, im Keller eines fremden Mannes, dessen Frau angeblich von mir ermordet wurde und habe absolut keine Fluchtmöglichkeit .
Sein Blick fiel auf seine Handschellen. Er sprang auf und sah sich im Raum noch einmal genauer um. Er fing an, mit den Füßen die Pappkartons einzeln aufzuwühlen, was bestimmt sehr schwachsinnig aussah, aber seinen Zweck erfüllte. Endlich, nach der sechsten Kiste, fand er, wonach er suchte. Einen verbogenen Kleiderbügel. Jetzt wurde es ein bisschen knifflig. Doch er hatte ja genügend Zeit. Mit den Handschellen hatte Leonard zwar eingeschränkte Bewegungsfreiheit, doch seine Finger konnte er ja immer noch bewegen. Und so begann er, den Kleiderbügel so oft zu verbiegen bis er nach einer geraumen Zeit ein fingerlanges Stück Eisen in den Fingern hatte. Er schob es sich in den Mund und begann, es in die Handschellen zu schieben. Leonard hatte solche Szenen schon in zahlreichen Hollywoodfilmen gesehen, dann musste es ja auch hier funktionieren.
Doch gerade in dem Augenblick, wo er glaubte, dass die Handschellen aufschnappen würden, wurde die Tür aufgerissen. Leonard hätte vor Überraschung beinahe das Stück Draht verschluckt. Verdammt! Schnell spuckte er es in seine Hand. Er hatte keine Zeit mehr, es unauffällig in die Hosentasche verschwinden zu lassen, sondern ließ es einfach auf den Boden fallen. Dann drehte er sich zur Tür um und sah Jim geradewegs in die Augen. Der wiederum schloss die Tür hinter sich, verschränkte die Hände hinter den Rücken und maß Leonard mit zusammengekniffenen Augen.
Leonard wurde immer nervöser, während Jim ihn zwei geschlagene Minuten anstarrte. Leonard wollte ihn nicht weiter provozieren und schwieg beharrlich.
Dann, endlich begann Jim zu reden, was Leonard fast nicht mitbekam, da Jim leise flüsterte.
„So habe ich mir einen Mörder wirklich nicht vorgestellt.“ Seine Stimme klang verächtlich.
„Tja, da haben Sie verdammt Recht, da ich mir keiner Schuld bewusst bin.“
„Hören Sie endlich auf, das Unschuldslamm zu spielen. Sehen Sie, ich hätte Sie nicht in mein Haus eingesperrt, wenn ich mir nicht absolut sicher bei der Sache wäre.“
Bei seinem letzten Satz nahm er einen Umschlag aus der Tasche und wedelte damit vor Leonards Nase herum.
„Dies hier ist ein hübsches Foto von Ihnen, als Sie sich in meinem Haus befanden.“
„Na, hören Sie mal, das ist doch lächerlich. Ich weiß ja nicht einmal, wo Sie wohnen! Ich kenne Sie nicht, ihre Frau kenne ich nicht, also habe ich gar kein Motiv, Sie oder Ihre Frau zu töten!“
Jim ignorierte seine Bemerkungen. Anstatt etwas zu erwidern, zog er ein Foto aus dem Umschlag.
„Da ich ein verantwortungsbewusster Bürger bin, hatte ich vor einigen Jahren ein paar Kameras in meinem Haus installiert. Wie es scheint, hat es sich jetzt als recht nützlich erwiesen…“
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