Mit diesen Worten zeigte er Leonard das Foto.
Es zeigte einen Mann in einem Wohnzimmer. Das Bild war ziemlich dunkel, dennoch konnte man noch genug erkennen. Der Eindringling trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Er war groß und schmal. Also nichts Auffälliges. Trotzdem war die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Leonard nicht von der Hand zu weisen. Denn der Mann hatte sein Gesicht leicht in Richtung der Kamera gedreht und fast mehr als die Hälfte des Gesichtes war sichtbar.
Leonard schluckte. Ihm wurde ein bisschen mulmig. Wie kommt dieser Mann zu solch einem Foto? Es muss sich offenbar um eine Verwechselung handeln; vermutlich sieht irgendein Idiot von Möchtegern-Einbrecher genauso aus wie ich…
Leonard schüttelte den Kopf.
Was er wieder auf abstruse Gedanken kam…
Jim blickte ihn an. Offenbar wartete er auf eine Bemerkung. Doch Leonard wusste nicht, was er ihm darauf sagen sollte. Er räusperte sich.
„Nun ja… ähm…“
„Ich glaube, ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ich hatte dutzende Alarmsirenen um mein Haus aufgestellt. Und Sie haben es geschafft, sie systematisch eine nach der anderen auszuschalten und zu überwinden. Dann sind Sie in mein Haus eingedrungen und haben die Kameras alle im Erdgeschoss ausgeschaltet; alle bis auf eine. Die haben Sie offenbar übersehen, und diese Kamera…“
Jim grinste genüsslich, als er eine Pause einlegte und zärtlich über das Foto strich, „diese Kamera bringt Sie ins Grab! Wenn ich an dem Tag zu Hause gewesen wäre und nicht bei einem Pokerabend bei meinen Freunden, hätten Sie ihr blaues Wunder erlebt. Aber so haben Sie schamlos die Tatsache ausgenutzt, dass meine Frau an diesem Tag alleine zu Hause war. “
Er drehte sich um und war im Begriff, den Raum zu verlassen. Dann hielt er noch einmal inne.
„Nur damit Sie es wissen: Dieses Foto habe ich der Polizei nicht gegeben. Ich weiß zwar, dass ich dadurch durch Unterschlagung von Beweismitteln angeklagt werden kann, doch das ist es mir wert. Schließlich habe ich Sie jetzt, und kann mit Ihnen tun und lassen, was ich will.“
Er griff nach der Türklinke, als Leonard noch einmal das Wort ergriff:
„He, warten Sie mal! Und woher haben Sie meinen Namen? Meine Adresse? Mein Arbeitsplatz?“
Jim grinste stolz.
„Das habe ich wohl meinem ehemaligen Job zu verdanken. Ich war eine Art Ermittler und habe noch so manche Kontakte.“
Leonard nickte.
Dann haben sie Ihre Hausaufgaben wohl gemacht.“
Jim schnaubte verächtlich.
„Ihnen werden die lockeren Sprüche noch vergehen.“
Mit diesen Worten verließ er endgültig das Zimmer.
Zurück ließ er einen äußerst verwirrten Mann. Leonard stand noch lange so da wie Jim ihn verlassen hatte, aufrechtstehend in einem dunklen Keller. Sein Blick reichte in die Ferne, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Er wusste, dass er niemanden umgebracht hatte, doch was sollte dieses Foto?
Er hatte sich darin eindeutig wiedererkannt. Doch wie kann das sein?
Jim musste dieses Foto gefälscht haben, weil er wegen irgendetwas extrem wütend auf Leonard war.
Doch die Morde war nicht erfunden; wenigstens etwas, das in dieser Geschichte wahr war. Er hatte es oft in den Nachrichten gehört. Vor ungefähr einem Monat, also Mitte Februar hatten diese Todesfälle angefangen. Leonard wusste allerdings nicht, wie viele Morde es waren, oder wer genau getötet wurde, doch eines wusste er: die Opfer waren alle in einem Wald verscharrt worden; dort hatte man jedenfalls all diese Leichen geborgen; es wurde außerdem berichtet, dass sie systematisch vor ihrem Tod vergewaltigt worden waren, dann hatte der Täter ihnen die Kehle aufgeschnitten. Eigenartigerweise waren die Morde alle nachts geschehen, die Vermissten wurden dann morgens im Wald wiedergefunden. Es handelte sich also um einen Serienmörder, der von der Polizei gesucht wurde… und ich, der keiner Fliege was zuleide tut, soll dieser grausame Serienmörder sein?! Lächerlich!
Er schüttelte den Kopf; er musste diese widerspenstigen Gedanken aus seinem Kopf kriegen und endlich nach vorne sehen. Er ging wieder zurück zu der Stelle, wo er das Stück Draht auf den Boden fallen gelassen hatte. Dann kniete er sich hin, beugte sich so weit nach vorn, bis sein Gesicht den Boden berühren konnte, reichte es sich in den Mund und fing wieder an, damit im Verschluss der Handschellen herumzustochern.
Nach einigen Minuten hatte er es geschafft; die Handschellen öffneten sich klackend und er konnte die Hände endlich wieder frei bewegen. Die Handgelenke waren schon richtig durchgescheuert worden, obendrein fühlte sich die linke Gesichtshälfte etwas taub an. Sie war bestimmt geschwollen.
Leonard seufzte noch einmal lautstark und ließ sich kurz auf die Couch sinken, die er im Dunklen ausmachte. Er war ausgelaugt von diesem aufwühlenden Tag, außerdem musste es schon ziemlich spät sein. Doch er konnte jetzt nicht ans Schlafen denken. Schließlich konnte Jim, diesmal in Begleitung von seinen Kumpanen, jeden Augenblick zurückkommen. Nur Gott wusste, was sie mit ihm anstellen würden.
Leonard dachte fiebrig über seine Situation nach. Er konnte seine Handschellen wieder zum Schein anlegen, und Jim dann, wenn er ihm nahekam, überwältigen. Ich muss nur noch einen Knüppel, oder etwas Ähnliches hier finden, das ich als Waffe benutzen kann…
Zwei Pappkartons später hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte: Einen massiven Baseballschläger aus Holz. Den legte er hinter sich auf die Couch. Jetzt musste er nur noch warten… Leonard schluckte. Er bekam so langsam Angst. Dieser Jim war kräftig gebaut, genau wie seine zwei Schlägertypen. Und ich?
Leonard sah an sich hinunter. Seine Jeans fielen ohne großen Widerstand nach unten. Sein Hemd spannte sich auch nicht gerade über Berge von Muskeln…deshalb war er vor nicht allzu langer Zeit einmal pro Woche regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen, um seiner Frau zu gefallen. Das Ergebnis war nicht gerade beindruckend. Doch immerhin hatten sich dennoch ein paar Muskeln mehr sichtbar gemacht… Es musste genügen. Er hatte einen schlaksigen, schmalen Körper, eckige Schultern, und war hochgewachsen mit seiner Größe von einem Meter neunzig. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, blaue Augen und einen Drei-Tage- Bart, der sein spitzes Kinn zur Geltung machte.
Wie er so wartete, übermannte ihn nach und nach die Müdigkeit. Seine Lider wurden schwer, und er hatte Mühe, wach zu bleiben. Doch er musste die Tür im Auge behalten. Wenn jemand kam, musste er bereit sein.
Plötzlich hörte er leise Schritte. Abrupt wurde er wieder hellwach und stellte sich vor die Tür. Doch die Schritte waren zu leise als dass es Jim sein könnte. Jim hatte kaum einen Grund, in seinem eigenen Haus fast lautlos herumzuschleichen. Dann hörte er ein Rumpeln vor seiner Tür. Etwa so, als ob sein schwerer Körper auf den Boden fiel.
Ob unbekannt oder nicht, die Person hinter der Tür hatte Mühe, sie aufzukriegen.
Leonard wurde immer nervöser. Er packte seinen Baseballschläger fester; das gab ihm wenigstens ein kleines Gefühl von Sicherheit.
Die Tür wurde abrupt aufgerissen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell, zu schnell, als dass Leonard reagieren, geschweige denn sich verteidigen konnte.
Er sah nicht mehr als einen Schatten, der auf ihn zugerast kam. Dann sah er etwas auf sich zu fliegen. Er hatte keine Zeit, zu sehen, was ihn da getroffen hatte. Auf jeden Fall breitete sich plötzlich eine Lähmung in seinem Körper aus. Er sackte auf den Boden, der Baseballschläger glitt aus seinen kraftlosen Fingern. Benommen versuchte er sich wieder aufzurappeln, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Seine Lider wurden schwer.
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