Adrenalin pulste durch ihre Adern. Der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie wollte um Hilfe rufen, gegen die Innenwand klopfen, irgendetwas, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch sie musste ruhig bleiben und flach atmen. Sie spürte wie der Sauerstoff immer knapper wurde. Die unheimliche Stille um sie herum machte sie langsam verrückt.
Als er weitersuchen wollte, kam ihm ein Gedanke. Vorsichtig und darauf bedacht, dem Hund nicht wehzutun, nahm er ihn wieder runter auf den Boden. Der Hund blieb, wider alle Befürchtungen, stehen, zwar etwas wackelig auf den Beinen, was jedoch verständlich war. Leonard suchte seine Taschen ab, bis er fand, was er gesucht hatte: Der Fetzen von Connys Pyjama. Er hielt es dem Dackel dicht unter die Nase und hoffte, dass dessen Geruchssinn nicht in Mitleidenschaft geraten war. Das war seine letzte Hoffnung, denn alleine, so befürchtete er, würde er Conny nicht mehr in der gegebenen Zeit finden. Der Dackel spielte anfangs den Uninteressierten. Dann begann er zu schnuppern, und einen Augenblick später war er mit seiner Schnauze schon dicht am Boden.
Leonard streichelte ermutigend seinen Kopf.
„Gut, das machst du sehr gut. Weiter so!“
Der ließ nicht lange auf sich warten. Die Augen auf dem Boden geheftet, war der Dackel schon unterwegs. Leonard ging dicht neben ihm und hoffte inständig, der Hund möge die richtige Fährte aufgenommen haben.
Doch der Hund war wirklich sehr schwach auf den Beinen. Er kippte plötzlich einfach um und winselte erbärmlich. Leonard bekam ein schlechtes Gewissen. Anstatt den Hund auf den Arm zu nehmen und sich um das abgemagerte Tier zu kümmern, hetzte er es quer durchs Unterholz. Doch es musste so sein. Leonard streichelte den Hund und redete beruhigend auf ihn ein. Der Dackel blinzelte mit den Augen und blickte ihn an. Diese kugelrunden, nussbraunen Augen blickten geradewegs in seine Seele und eroberten sein Herz im Sturm. Er schluckte. Doch er durfte jetzt nicht nachgeben. Ich tue es für Conny , wiederholte er immer wieder in Gedanken, als er den Dackel wieder auf seine vier Pfoten setzte. Leonard hielt ihm wieder den Fetzen unter die Nase, um ihn anzuspornen. Fast widerstrebend setzte sich der Dackel in Bewegung. Das Gehen fiel ihm nicht nur wegen seiner schweren Verfassung so schwer, sondern auch wegen seiner, für seine Rasse, typisch kurzen Beine. Mit solchen Beinchen war es für den Dackel nicht leicht, über Wurzeln und übers Unterholz zu steigen. Doch er hielt durch, wenigstens die nächsten Minuten. Sein Tempo war langsam, doch es half nicht, ihn noch weiter zu stressen.
Ich werde hier drin ersticken. In wenigen Minuten werde ich wegen Sauerstoffmangel sterben. Conny versuchte, sich mit der harten Realität abzufinden, was ihr nicht sehr gut gelang. Sie sträubte sich bei dem Gedanken, bald zu sterben. Ich bin erst siebenundzwanzig Jahre alt, das kann doch nicht schon das Ende sein .
Heiße Tränen benetzten ihr Gesicht.
Sie spürte, wie sich ein nasses Rinnsal auf dem hölzernen Untergrund ausbreitete und ihre Kleidung durchnässte. Von irgendwoher drang also Regen in ihr Gefängnis.
Conny bekam immer weniger Luft. Allmählich konnte sie Leonard verstehen, wenn er wieder einmal eine seiner gefürchteten Asthmaattacken erlitt. Es musste sich etwa so anfühlen, wie sie sich jetzt fühlte. Kein schönes Gefühl.
Sie fühlte sich einsam und verlassen. Niemand weiß, wo ich bin, nicht einmal ich. Man wird meine Leiche irgendwann finden und dabei hat es sich. Verzweiflung fesselte ihren Verstand und hinderte sie daran, klar zu denken.
Vor ihrem geistigen Auge ging sie all die Personen durch, die sie liebte oder kannte. Als erstes sah sie ihren Ehemann. Ihre Gedanken hingen lange bei ihm. Schöne Zeiten, die sie zusammen verbracht hatten, zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Plötzlich sah sie ihren Bruder, der sie eindringlich anstarrte und ihr ins Ohr flüsterte:
„Nein, heirate ihn nicht. Nicht!“ Sie zuckte zusammen. Mein Bruder… Sie wollte die schrecklichen Erinnerungen verdrängen und presste die Augen zusammen.
Der knappe Sauerstoffgehalt lenkte sie ab. Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Augen flatterten. Sie versank in schwarze Ohnmacht.
Sie waren etwa fünf Minuten unterwegs, Leonard war mit seinen Nerven fast am Ende. Jetzt war es zu spät, noch seine Frau zu finden, falls es dem Hund nicht gelingen würde.
Dieser Mistkerl! In einem Wald bei hereinbrechender Dunkelheit nach einem Schlauch zu suchen, der aus der Erde herausragte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und Jim weiß das. Er stellt mich vor eine unmögliche Aufgabe, um mir dabei zuzusehen, wie ich daran scheitere .
Aber er würde nicht so schnell aufgeben! Entschlossen setzte er einen Fuß vor den anderen.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihn all seine Hoffnungen zunichtemachen.
Noch knapp zehn Minuten.
Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu.
Plötzlich blieb der Hund stehen, sah ihm eindringlich in die Augen und bellte einmal kurz. Es hörte sich erbärmlich an. Schließlich war sein Hals völlig durchgescheuert und seine Kehle staubtrocken.
Doch das bemerkte Leonard gar nicht mehr. Er bückte sich schnell und besah sich den Boden genauer. Und er fand einen Schlauch! Er ragte knapp fünf Zentimeter über der Erde. Ohne den Hund hätte er das nie gefunden. Mit bloßen Händen begann er die Erde auszuheben. Jim hatte eine paar Sträucher über die aufgeschüttete Erde gelegt, um seine Suche schwieriger zu machen. Leonard grinste, während er weiter grub. Mit einem Hund hast du wohl nicht gerechnet, was?! Dann wurde er wieder ernst. Schließlich konnte es schon zu spät sein. Daran durfte er gar nicht denken!
Plötzlich spürte er Holz unter seinen Fingern. Mit einigen Handgriffen legte er die Kiste frei. Sie war erschreckend flach.
Leonard bückte sich, bis sein Gesicht die Kiste fast berührte und rief:
„Conny? Conny, bist du da ? Ich bin es, Leonard!“
Sie erwachte und realisierte nur langsam, wo sie sich befand. Sie bekam jähe Platzangst, die ihr das Herz zusammenpresste. Sie wimmerte und riskierte, wieder in Ohnmacht zu fallen. Plötzlich hörte sie eine Stimme. Eine bekannte Stimme.
Leonard! Leonard ist hier! Er hat mich gefunden. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie räusperte sich, um zu antworten.
Nach ein paar Sekunden, in denen er noch ein Stoßgebet gen Himmel schickte, hörte er eine klägliche Stimme aus der Kiste:
„Ich bin hier!“
Leonard fiel ein Stein vom Herzen.
„Conny? Du lebst!“ Er könnte weinen vor Erleichterung. Doch erst einmal musste er sie aus der Kiste befreien. Sie war an den Rändern mit Nägeln zusammengehämmert worden. Wenn er sich nicht irrte, war die Kiste aus stabilem, dickem Holz, doch der Deckel war billiges Sperrholz. Dementsprechend leicht könnte er den Deckel zerschlagen.
„Conny, ich werde gleich den Deckel entfernen. Doch ich muss auf ihn einschlagen, um ein Loch zu bekommen. Sag‘ mir kurz, wo dein Kopf liegt, okay?“
Als Antwort klopfte sie von innen auf eine Seite. Leonard nickte und vergaß beinahe, dass sie ihn ja nicht sehen konnte.
„Gut. Bleib hier, ich gehe mal kurz was Passendes finden.“ Er stand auf und brach einen herunterhängenden, dicken Ast entzwei. Dann fiel ihm auf, was er eben zu ihr gesagt hatte. Bleib hier , wiederholte er sich kopfschüttelnd in Gedanken, dummer geht’s nicht .
Leonard ging zurück zur Kiste und brach den Deckel kurzerhand an der Stelle auf, wo Connys Füße sein mussten. Danach war es ihm ein Leichtes, den Deckel komplett aufzubrechen. Er bekam dabei zahlreiche Holzsplitter in die Hände, was ihn im Augenblick nicht weiter störte. Endlich konnte er seine Frau wiedersehen. Sie sah sehr blass aus, der Atem ging nur stoßweise. Das musste am Sauerstoffverlust liegen.
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