Kayla fuhr in die hauseigene Tiefgarage der Kanzlei und nahm direkt den Parkplatz vor dem Aufzug. Sie stieg aus ihrem Cabrio aus, den Miguel ihr mit großer Geste geschenkt hatte. Sie mochte den Wagen, da er ein wenig ihre Art wiederspiegelte, rasant und stilvoll. Der geschmeidige Stoff ihres neuen Kleides schmeichelte ihrer Figur und betonte ihre leichten Kurven auf eine geschmackvolle Weise. Darüber trug sie eine leichte Jacke, die farblich zu dem Kleid gewählt war und ihre Stiefel rundeten das gesamte Outfit ab. Sie löste das Haarband und ließ ihre dunklen Locken über ihre Schultern fallen, bevor sie den Aufzug betrat. Nachdem sie den Knopf zur obersten Etage betätigt hatte, betrachtete sie sich eingehend im Spiegel. Ihr gefiel, was sie sah, jedenfalls die Oberfläche dessen, doch darunter wollte sie in diesem Moment gar nicht schauen. Wut stieg wieder in ihr auf, als sie daran dachte, wie Miguel den Plan in Gefahr gebracht hatte. Es steckten so viele Jahre der mühevollen Arbeit darin, ihrer mühevollen Arbeit, und dieser Idiot schaffte es nicht, sich unter Kontrolle zu halten, bis alles erledigt war. Persönlich fühlte sie sich nicht im Mindesten angegriffen, sie hatte schließlich keinerlei Gefühle für ihn, und sobald sie alles erledigt hatten, würde sie sich für ihn freuen, wenn er seine große Liebe findet, aber jetzt war einfach der falsche Zeitpunkt, und das war es, was sie so aufbrachte. Hinzu kam die Peinlichkeit, dass sie nicht selbst hinter sein Geheimnis gekommen war, sondern erst Frau Braggs, die höchstens eine Stunde bei ihm verbracht haben konnte. Er hatte es nie geschafft, sie zu belügen, niemand hatte es je geschafft, es war, als sei sie ein lebendiger Lügendetektor. Nichtsdestotrotz empfand es Kayla als unangenehm, dass Miguel eine Affäre vor ihr hatte versteckt halten können. Der Aufzug hielt jedoch auf der falschen Etage. Thomas, ein Kollege Miguels, trat ein und schenkte Kayla ein breites Lächeln, sobald er erkannte wen er vor sich hatte. „Na, bekommt dein Mann einen kleinen Überraschungsbesuch?“, fragte er grinsend und offensichtlich mit Hintergedanken. Kayla nickte zögerlich: „Ja, wir wollten zusammen Mittag essen.“ „Ich hoffe, ich tue damit nichts Unrechtes, aber Janis vom Empfang unten hat vorhin eine attraktive Frau in sein Büro gehen sehen, und sie schwört, es sei keine Mandantin“, flüsterte Thomas verschwörerisch. Offenbar war er ganz darauf aus, zu sehen, wie seinem Chef eine Szene gemacht wurde, und es machte Kayla fast schon Spaß, ihm jegliche Hoffnung diesbezüglich zu nehmen. „Ja, eine Freundin von mir aus Uni-Zeiten, wir haben uns hier verabredet, damit sie endlich meinen Mann kennen lernen kann“, offenbarte Kayla mit einem Zwinkern. Thomas‘ Augen weiteten sich, als könne er es kaum erwarten, aus dem Aufzug zu steigen und den neuesten Klatsch herum zu erzählen. Immerhin besser als eine mysteriöse Fremde, dachte Kayla sich nur. Außerdem wurde dieser Tratsch nie nach außen getragen, dafür waren die meisten Angestellten Miguel gegenüber zu loyal, und die anderen interessierten sich nicht für das Gerede.
Es klopfte an der Tür zu seinem Büro, und Miguel schrak aus seinen Gedanken auf. Frau Braggs hatte es sich bereits wieder in seinem Bürostuhl bequem gemacht und sah ihn nun erwartungsvoll an. Als ein zweites Klopfen ertönte, fuhr sie ihn an: „Willst du nicht die Tür öffnen?“. Missmutig stand er auf und begab sich zur Tür. Er drehte den Schlüssel und hielt seiner Frau diese auf. Sobald Kayla eingetreten war, schloss er die Tür wieder ab und versuchte, Kaylas Blick auszuweichen. Sie sah unheimlich gut aus, aber ihr Stilgefühl und Sinn für modische Kleidung hatten ihm immer schon gefallen. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, da war er in sie verknallt gewesen und hat sie angehimmelt. Diese Schwärmerei ist nun allerdings auch schon über 20 Jahre vergangen.
Brutal wurde er aus dem Auto gestoßen, so dass er fast gestolpert wäre. Seine Hände waren mittlerweile auf seinem Rücken gefesselt, und um ihn herum waren gleißende Lichter, die es ihm erst einmal unmöglich machten, seine Umgebung zu erkennen. Vage erkannte er die Umrisse eines Zauns. Auf der einen Seite erstreckte sich ein dichter Wald, und auf der anderen Seite konnte er schemenhaft eine hohe Mauer ausmachen. Wo war er nur? Bevor er sich weiter umschauen konnte, packte jemand seinen Arm mit festem Griff und bugsierte ihn einen gepflasterten Weg lang. Rechts und links des Weges war eine Absperrung befestigt, die mit Scheinwerfern dekoriert war und welche ihn blendeten. Kurz dahinter öffnete sich ein großes Glasportal, das in einen dunklen Raum führte. Plötzlich erstrahlte ein grelles Licht, und ehe Miguel sich versah, hatte man seine Handschellen gelöst, ihn auf einen Stuhl gewuchtet, der in der Mitte des Raumes stand, und seine Hände mit Metallmanschetten an den Lehnen befestigt. Danach wurden seine Füße an die Stuhlbeine geschnallt, und ohne Vorwarnung erlosch das Licht wieder. An der Wand vor ihm blitzten Worte auf. Es dauerte einige Momente, bis Miguels Augen sich an diese Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er die Worte entziffern konnte. In großen Lettern stand dort: Regel Nummer 1: Jegliche Entscheidungsgewalt wird an die Organisation und stellvertretend an die Betreuer abgegeben. Ein lautes Klicken ertönte, und neue Worte erschienen: Regel Nummer 2: Jeder ist der Organisation zu Gehorsam und zur Geheimhaltung verpflichtet. Verwirrt betrachtete Miguel die Worte. Von welcher Organisation war dort die Rede? Und was sollte das ganze hier überhaupt? Wieder änderte sich die Schrift: Regel Nummer 3: Das Nichtbefolgen der Regeln zieht Konsequenzen verschiedenster Art und Härte nach sich, die jeweils von den verantwortlichen Betreuern zu wählen sind. Was für Konsequenzen? Welche Betreuer? Warum hatten diese Leute ihn entführt, und was hatten sie mit ihm vor? Regel Nummer 4: Die Betreuer dürfen alles Nötige tun, damit der Beitrag zur Organisation eines jeden gewährleistet ist und jeder am Ende bestmöglich ausgebildet ist. Was für eine Ausbildung? Bei jeder neuen Regel stieg Miguels Verwirrung, denn er hatte sich nie in einer vergleichbar absurden Situation befunden, noch von derartigen Entführungen oder einer solchen Organisation je gehört. Doch mit jeder weiteren Regel wandelten sich seine Befürchtungen in Wut. Wut auf seine Entführer und die seiner Meinung nach irrsinnigen Regeln. Wut auf den unbequemen Holzstuhl und die Fesseln, die ihn daran hinderten, sich frei zu bewegen. Als nach Regel Nummer 48: Jeder muss Betreuern mit Respekt und Höflichkeit begegnen, die erste Regel wieder erschien, begann Miguel mit aller Macht an den Metallmanschetten zu rütteln. Er riss sie nach oben, zog daran und schlug frustriert mit seinen Händen auf die hölzernen Armlehnen. Das gleiche probierte er sogleich mit seinen Füßen, doch bis auf schmerzende Druckstellen zeigte auch dies keinerlei Wirkung. In einer Dauerschleife wurden die Regeln an die Wand projiziert, und nachdem Regel Nummer 1 zum vierten Mal auftauchte, hatte Miguel das Gefühl zu verzweifeln. In seinem Kopf drehte sich alles, und er schloss die Augen. Selbst in der Dunkelheit seiner geschlossenen Augen, konnte er die Regeln vor sich sehen, und bei jedem Klicken und Aufblitzen schrak er zusammen. Miguel schwang hin und her und versuchte den Stuhl umzukippen, damit er sich von dieser Wand abwenden konnte, allerdings schien dieser am Boden befestigt zu sein, denn ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, der Stuhl bewegte sich keinen Zentimeter. Seine untersten Rippen schmerzten, weil er mit diesen immer wieder gegen die Lehne geprallt war, und er gab schließlich auch diesen Plan auf. Die Enttäuschung über die fehlgeschlagenen Versuche, sich selbst aus dieser misslichen Lage zu befreien, ließen Miguel aufschreien. „Lassen Sie mich sofort gehen!“, brüllte er durch den dunklen Raum und hörte außer dem Wiederhall seiner eigenen Stimme, rein gar nichts. „Hören Sie nicht?! Blödes Miststück, lass mich endlich hier raus!“, schrie er noch einmal und versuchte, seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen, in der Hoffnung, seine Entführer würden ihn auf diese Weise ernst nehmen. Abermals tat sich nichts, was ihn noch mehr aufbrachte, und er versuchte, sich die Fesseln vom Leib zu schütteln. Seinen Rücken ließ er wieder und wieder gegen den Stuhl krachen, ohne darüber nachzudenken, ob ihm dies überhaupt etwas nützen würde. Wutschnaubend und zitternd gab er schließlich auf und versuchte, sich langsam zu beruhigen, um wieder klar denken zu können. In seinem Kopf spielte er verschiedene Möglichkeiten durch, wie er fliehen könnte.
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