Erst vor wenigen Jahren konnte ich dank meines Facebook-Freundes Burkhard Götzl und dank der evangelisch-reformierten Gemeinde am Günthersburg-Park in Erfahrung bringen, wie die jüngere Geschichte meiner hugenottischen Vorfahren verlaufen war. Burkhard ist ein brillanter Ahnenforscher, und von ihm erfuhr ich nach Vorlage von alten Dokumenten und Kirchenbucheinträgen, dass meine protestantischen Ahnen vor rund 320 Jahren aus Südfrankreich vor dem religiös aufgeputschten katholischen Mob flüchteten. Sie konnten sich 1699 in den wallonischen Teil Belgiens retten. Dort fand der Vater Arbeit in seinem alten Beruf als Uhrmacher; aber nicht alle Kinder der Familie hatten ein solches Glück. Sie blieben lange Zeit ohne Arbeit.
So zog einer der Söhne meines Ururgroßvaters nach Mittelhessen und landete – wie der Zufall es will – nur fünf Kilometer von meinem jetzigen Wohnort Laubach entfernt in Röthges.
Johann, so hieß er, wurde um das Jahr 1715 Tagelöhner bei einem Bauern und trug für diesen die Hühner in Transportställen auf seinen Schultern nach Frankfurt auf den Markt. Eine Fußstrecke von rund 60 Kilometern. Er war nun also von Beruf Hühnerträger – oder im damaligen Sprachgebrauch: Hühnergarth. Noch heute ist dieser Familienname hier in der Gegend verbreitet. Meinen Urahn aber hielt es nicht länger in Röthges, nachdem er genug Geld angespart hatte.
Auf dem Frankfurter Markt hatte er die Frau seines Herzens gefunden und zog zu ihr in die große Stadt. Aus seiner Ehe ging 1722 mein Urgroßvater Philipp hervor, der sich bei einem Goldschmied ausbilden ließ. So nahm die Ahnenreihe ihren Lauf bis schließlich am 16. Oktober 1870 Opa Heinrich in die Goldschmiede hineingeboren wurde. 1908 wurde mein Vater Otto Heinrich im Frankfurter Marienhospital geboren. Die Abstammung meiner „grenzenlos eifersüchtigen“ Großmutter blieb mir hingegen bis heute ein Geheimnis.
Apropos Eifersucht. Hanna und ich schworen uns, niemals der bürgerlichen, kleinkarierten und durchaus behandlungswürdigen Eifersucht zu verfallen. Eifersucht, das war ein Zeichen kleinbürgerlicher Dekadenz – und natürlich hochkapitalistisch. Wir begannen Sigmund Freud zu lesen. Und weil ja alles mit dem Kapitalismus zusammenhängt, wie uns die studentischen Vorbilder lehrten, wendeten wir uns auch dem großen Philosophen und Ökonom Karl Marx zu. Sein Freund und Weggenosse Friedrich Engels, Sohn eines gestandenen Unternehmers, hatte etwas geschrieben, was uns besonders interessierte. Wir erforschten den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“.
Aber was heißt erforschen? Mit gerade mal sechzehn Jahren waren uns die Texte noch viel zu schwer, auch wenn wir uns noch so sehr bemühten und fleißig am Ball blieben – vieles war uns total unverständlich. Erst zwei Jahre später, als ich die Schriften erneut las, konnte ich begreifen. Denn zwischenzeitlich hatte sich echt „Griffiges“, wirklich zu „Begreifendes“, ereignet. Schuld daran waren die Bullen.
Mitte der 60er Jahre kam es zu vielen Demonstrationen gegen althergebrachte Gesellschaftsstrukturen. In einem Café wurde ich einmal Mithörer eines Gesprächs zwischen zwei krawattenbetuchten Anzugmenschen, und der eine meinte: „Wir leben in einem durch und durch braun-schwarz durchtränkten Land“. Das gab mir zu denken, denn wenn selbst Krawattenmenschen so aufmüpfig redeten, dann musste etwas dran sein. Ich begann zu recherchieren und meine Lehrer zu befragen. Das aber waren die Falschen. Trotzdem fand ich heraus, dass Hunderttausende ehemaliger Funktionsträger der Nazis immer noch – oder schon wieder – in den Amtsstuben, in Ministerien und als Richter in den Hallen von Justitia saßen.
„Wird Zeit, was zu unternehmen. Die Christdemokraten sind die Schutzherren der braunen Garde. Auf einen parlamentarischen Wechsel unserer Politik können wir lange warten“, sagte der eine Krawattenträger, und sie erwähnten drei Buchstaben, die mir damals noch nichts sagten: APO.
Das war die Außerparlamentarische Opposition. Hier organisierten Unorganisierte regelmäßige Protestaktionen auf der Straße und in den Vorlesungsräumen der Universitäten wegen der bundesdeutschen Wiederaufrüstung, wegen des westdeutschen Strebens nach Atomwaffen, wegen der geplanten Notstandsgesetzgebung und wegen des grausamen US-Krieges in Vietnam. Der Protest hatte viele Gesichter, wie ich bald erkannte, und er war mit einem Mal allgegenwärtig. Die Polizei stand mit ihren oft unangemessenen Mitteln im öffentlichen Scheinwerferlicht und war ständiger Kritik ausge- setzt. „Die Bullen haben wieder eine Schülerdemo niedergeknüppelt!“ Das Schimpfwort für die Polizei nahm Gestalt an.
Zu Hause begannen wir aufmüpfige Literatur zu lesen. Woher aber hatten wir die Schriften von Marx, Engels und Freud? Wir gammelten tagsüber am Opernplatz rum, wann immer wir Zeit fanden. Statt Hausaufgaben zu machen, zwitscherte ich ab. „Lollo!“, rief ich meiner Mutter zu – so nannte ich sie, weil mein Vater sie so nannte, denn sie sah in den Augen meines Vaters der italienischen Schauspielerin, Fotografin und Bildhauerin Gina Lollobrigida recht ähnlich: „Ich fahre mal mit der Tram in die Stadt.“ Wir wohnten zwar in der Stadt, im urbanen Stadtteil Bornheim, aber wenn man in „die Stadt“ ging, dann bedeutete es, dass man zur Zeil, jener bekannten Einkaufsstraße der Wirtschaftswundermetropole, oder zum Opernplatz oder zur Hauptwache ging.
Am Opernplatz befand sich der Marshallbrunnen, der seinen Namen dem von 1947 bis 1949 amtierenden US-Außenminister zu verdanken hatte. Der Marshall-Plan pumpte gleich nach dem Sieg über die Nazis aus dem völlig unzerstörten Nordamerika 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa, um hier gegen die durch den Krieg fast völlig deindustrialisierte Sowjetunion zu punkten.
Verkauft wurde uns diese Aktion von der BILD-Zeitung und von anderen US-hörigen Pressesatelliten Jahr für Jahr in einhämmernder Weise als „großzügige und uneigennützige Hilfe aus den Vereinigten Staaten“. So hatte ich es auch in der Grundschule gelehrt bekommen. Und von meinen Eltern gehört. Und von meinen Verwandten. Und so sprachen und dachten auch unsere Nachbarn. Und diese Lehre saß sehr tief. Sogar äußerst tief, und sie wirkte äußerst lange nach – bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, als ich begann, Fragen zu stellen.
Ein uralter Gammler, er war gewiss schon Mitte zwanzig, erklärte mir bei einem Protest-Sit-in wegen des US-Vietnamkrieges an der Alten Oper, was er von der amerikanischen Nachkriegs-Hilfe hielt. „Die sogenannte Hilfe ist nichts weiter als das umfangreichste Bestechungsgeld, das weltweit jemals floss.“
Ein Jahr später arbeitete ich diese Aussage in mein Geschichtsreferat ein: „Die Marshallplan-Hilfe entspricht heute rund 129 Milliarden Dollar. Damit schufen sich die USA wirtschaftlich-politischen Einfluss und sicherten sich langfristig einen großen westeuropäischen Absatzmarkt für ihre Waren und Ideologien.“ Mein sozialdemokratischer Sozialkunde- und Geschichtslehrer gab mir darauf eine „ungenügend“. Er war sechs Jahre zuvor aus der „Zone“ geflohen.
Am Marshallbrunnen saßen all die Outlaws, die Beatniks, Hippies, Gammler und Provos. Dort hatte Kurt, einer der ewigen Langzeit-Studenten, einen sogenannten wilden Bücherstand aufgebaut. Er wurde wohl geduldet, denn die Bullen ließen ihn in Ruhe. Bei ihm gab es längst jene Bücher, die zu dieser Zeit noch keine der normalen Buchhandlungen in ihrem Sortiment führte. Ich hatte von meinem 10-DM-Taschengeld im Laufe der Monate etwas zusammengespart und kaufte jede Woche bei Kurt mindesten ein Buch im Wert von fünf bis acht Mark. Ein wirkliches Taschengeld-Opfer. Ansonsten saßen wir am Brunnen und gammelten.
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