Dennoch gab er zu bedenken, dass er sich bei einer solchen Operation jedes Mal der statistischen Unterlegenheit bewusst war, die ihm sagte, dass im selben Augenblick, während er einem Kind Arme und Beine abschnitt, eine Vielzahl von Kindern durch Minen in der Luft tödlich zerrissen wurde. Und da einen Sinn hereinzubringen, das komme ihm der Quadratur des Kreises gleich. „Oder einem Differential, wo die Vernunft auf der Zeitachse des Lebens gegen null gesetzt wird“, ergänzte der junge Kollege, weil er es verstanden hatte, was Dr. Ferdinand für einen Moment die gedankliche Fassung verlieren ließ, weil er ein Genie vor sich zu sehen glaubte, das trotz seiner Jugendlichkeit das Leben mit seinen gestuften Sinnfälligkeiten rauf und runter differenzieren konnte, was bei ihm an die Grenze des Fassungsvermögens ging. „Das ist ja unglaublich, was Sie da sagen. Wie kommen Sie darauf, dass man die Vernunft gegen null setzen kann?“, fragte er fast gedankenentrückt. „Weil dieses Nullsetzen etwas zu tun hat mit der Überwindung eines Machtvakuums, das nur kurzzeitig andauert, weil sich die Machtstrukturen wie sichtbare Fäden in einem gläsernen Würfel durch die Gesellschaft ziehen und Arme und Beine zusammenhalten, was beim Verlust zu einem Torso führen würde, der weder greifen noch gehen kann, weil ihm Arme und Beine abgeschlagen sind. Für ein zusammengesetztes Gebilde, wie es der Staat ist, würde das einem allgemeinen Chaos gleichkommen. Und da sich der Staat auf die Macht versteht und ein solches Vakuum von Staatswegen nicht zulassen kann, kommt es den Menschen an den Hebeln der Macht auf die Vernunft nicht mehr an, sonst käme nicht so viel Unsinn auf den diversen Wegen des Staates heraus, die vom Perversen, das der Macht ohne Vernunft tief innewohnt, nicht zu trennen sind. Von daher ergibt sich der Differential schritt mit dem Nullsetzen der Vernunft visuell, fühlbar und logisch aus der unmittelbaren Beobachtung, die direkter nicht sein kann und die jeder täglich bis zum Überdruss machen kann.“ Dr. Ferdinand gab sich geschlagen und gratulierte dem jungen Kollegen für seine Beobachtungsgabe mit der einleuchtenden, weitergedachten Ableitung. Für ihn war es ein interessanter Auszug aus der angewandten Infinitesimalrechnung, die auch dem theoretischen Begründer, Gottfried Wilhelm Leibniz, ein Schmunzeln abgerungen hätte.
Sie verließen den Teeraum und traten in die Abenddämmerung hinaus, überquerten den weniger urinös riechenden Vorplatz und gingen auf das neu errichtete Ausfahrtstor zu, wo an diesem Abend zwei Pförtner standen, um dem Tor eine vieräugige Aufmerksamkeit zu schenken, die miteinander sprachen und sich von den Vorübergehenden nicht stören ließen. Dr. Ferdinand blickte, wie er es jeden Abend tat, zu den Menschen zurück, die sich ihr Nachtlager auf dem Betonboden vor der Rezeption herrichteten. Ihnen allen, es war eine stattliche Zahl, wünschte er eine ruhige Nacht. Dr. Lizette wurde von ihrem Mann mit dem Auto abgeholt, der Dr. Ferdinand und dem jungen Kollegen die Mitfahrgelegenheit, auch „Lift“ genannt, anbot, was beide dankend ausschlugen, weil sie den Rückweg als Spaziergang durch den frühen Abend verstanden und dabei miteinander reden wollten. So gingen sie den abgekürzten Weg zwischen Lattenzaun und Stacheldraht entlang und an den fünf Caravan-Häusern vorbei, von denen zwei schon unbewohnt waren. Der Horizont, an dem die Sonne vor wenigen Minuten untergegangen war, glühte noch feuerrot und zog rote Himmelsstreifen, die ins Violett wechselten, bedeutungsvoll nach. Der junge Kollege erzählte ihm beim Anblick dieses Lichtspektakels, dass er solche himmlischen Erleuchtungen auch der jungen Familie an der Palliser Bucht zuschreiben möchte, wo sich über den Wellen des Stillen Ozeans die Sonne in allen Farben spiegelt, bevor sie in den Meeresweiten untertaucht. In diesem Zusammenhang fragte ihn Dr. Ferdinand, ob er denn auch die Landschaft um die Bucht beschreiben würde, die weiter landeinwärts ging. „Das ist schon ein Problem, weil ich das hügelige Hinterland nur in einigen ,Geographic’-Fernsehstreifen gesehen habe. Aus dem Gedächtnis versuche ich das Beste daraus zu machen und nehme dabei die Hügel vom Westkap, die bis zum Atlantik reichen, und die Weinhügel vom Ostkap zu Hilfe, wo ich mich besser auskenne und diese paradiesische Landschaft auch den Bewohnern hinter der Palliser Bucht zukommen lasse, damit sich die junge Familie vertrauter fühlt.“ Sie passierten den Kontrollpunkt, wo die Wachhabenden das Gesicht des zivilen Doktors kannten und auf das Vorzeigen des „Permits“ verzichteten, weil sie ihn mit dem jungen Kollegen in Uniform in guter Begleitung fanden. Ihre Wege trennten sich, und sie wünschten sich gegenseitig eine ruhige und erholsame Nacht. An der Tür zur Veranda steckte ein Zettel, auf dem Herr C. um einen Anruf bat. Er teilte Dr. Ferdinand am Telefon mit, was dieser schon wusste, dass nämlich die Ärzte, die hier ihren Wehrdienst ableisteten, in Kürze vom Hospital abgezogen würden. Er konnte den genauen Termin des Abzugs nicht sagen, so wie ihn der junge Kollege im „theatre“ am Morgen auch nicht kannte. Herr C. drückte seine Sorge um die sich verschlechternde Lage aus, wobei er jedoch weniger ans Hospital als an die weißen Menschen im Dorf dachte, weil er nur von ihnen und ihren Familien sprach und seine Familie dabei wörtlich einbezog. Er sagte, dass einige Familien aus Gründen der Sicherheit bereits ihre Sachen in Kartons verstaut hätten und nach Südafrika zurückkehren wollten, weil sie die Granateneinschläge sich und ihren Kindern nicht länger zumuten könnten. „Haben Sie Ihre Sachen auch schon gepackt?“, fragte Dr. Ferdinand. „Noch nicht, aber ich denke ernsthaft darüber nach, denn die Kinder können schlecht einschlafen und sitzen nachts mit Angstträumen in ihren Betten“, sagte er väterlich besorgt. Herr C. nannte Gott bei seinem Namen, dessen Obhut er seine Familie anvertrauen und sich auf ihn verlassen würde. Von den schwarzen Familien mit ihren Kindern und den Patienten im Hospital sprach er in diesem Zusammenhang nicht. Vielleicht waren seine Gedanken zu sehr auf die eigenen Ängste ausgerichtet, so dass von diesem Gedankenbündel kein Strohhalm für die anderen übrig blieb. MG-Salven waren zu hören, als Dr. Ferdinand sein Abendbrot im Wohnzimmer zu sich nahm, die von den Wassertürmen herab den sandigen Boden bestrichen, weil sich da offensichtlich etwas bewegte, wo sich nichts bewegen sollte und von daher verdächtig war. Er ließ sich dadurch nicht stören, weil er mit derlei Salven vertraut gemacht wurde, als er noch nicht zehn war. Da Hunde zu bellen begannen, kamen ihm unwillkürlich Erlebnisse in den Sinn, die der Krieg, die Flucht vor der Roten Armee und die deutsch-deutsche Grenze ihm mitgegeben hatten. Ein Leben ohne Schießen war für ihn nicht vorstellbar, weil den Menschen die Vernunft fehlte, zu begreifen, dass es ohne Schießen besser ginge. Er dachte über den Satz des jungen Kollegen nach, der beim DenkDifferential die Vernunft auf der Zeitachse des Lebens gegen null setzte, weil es dem Menschen um die Macht ging, die mit der Vernunft nichts gemeinsam hatte, solange die Verelendung fortschritt. Diesen Differential schritt begründete er mit Beobachtungen, die jeder auf direktem Wege machen könne. Der Schritt hatte unmittelbaren Realitätsbezug, dem man sich denkerisch nicht entziehen konnte, weil es praktisch aus dieser Realität kein Entkommen gab. Dr. Ferdinand machte sich die folgende Notiz:
Weil es zur Vernunft nicht reicht, müssen Menschen hungern. Wenn es um die Macht geht, ist es ums Brot schlecht bestellt. Reichtum kann die Armut nicht aufwiegen, was er auch nicht will. So mehrt sich das eine bei den wenigen, das andere bei den vielen. Was sich da herauswächst, ist die ekelhafte Ungestalt des Monsters, dem die Geier der Habgier auf der Schulter sitzen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Читать дальше