Es war eine Vollmondnacht, und Dr. Ferdinand machte seinen nächtlichen Spaziergang, als ihn der Wachhabende an der Sperrschranke fragte, ob er denn bis jetzt gearbeitet hätte. Dr. Ferdinand sagte ihm, dass die Arbeit am Hospital einfach kein Ende nehme und die Kräfte eines Menschen überfordere. Der Wachhabende meinte, dass es doch eine Frage der Organisation sei, die Arbeit gleichmäßig zu verteilen. Als er dann hörte, dass die Zahl der Ärzte viel zu klein war, sah er offenbar ein, dass das Verteilungsprinzip da auch nicht zur Arbeitserleichterung beitragen konnte. Er brach das Gespräch ab, da ihn der Vorgesetzte über das Walkie-Talkie ansprach, während ein anderer die Sperrschranke senkrecht aufrichtete, um eine zurückkehrende „Eland-90“-Dreierkolonne durchzulassen. Hunde bellten ihn aus den Vorgärten an, die den vorausgehenden Schatten eines kriechenden Wanderriesen nicht so einfach passieren ließen. Zu Hause machte er einen Kaffee, steckte sich eine Zigarette an und setzte sich auf die Treppenstufe. Die Luft hatte sich etwas abgekühlt, was Dr. Ferdinand als angenehm empfand. Unter einem Baum vor dem „International Guesthouse“ stand ein Toyota Cressida mit heruntergedrehter Scheibe und abgestelltem Licht, in dem sich eine Frau bumsen ließ, die ihre rhythmischen Stoßlaute über den Platz schickte. Dr. Ferdinand ging in die Küche und kochte sich zwei Eier, schnitt vom geschmacklosen Brot drei Scheiben ab und bestrich sie dünn mit Pflanzenfett, setzte das Essen auf den niedrigen Tisch vor dem Sessel und aß es mit Appetit, denn er hatte aufgrund der Obduktionen das Mittagessen nicht gesehen. Er trank eine zweite Tasse Kaffee, als es in dem parkenden Auto eine Auseinandersetzung gab, die an Lautstärke zunahm, weil der Bumser nicht so viel Geld für die Gebumste locker machen wollte, die ihn deshalb als Geizhals bezeichnete, während der „Stielicke“ sie trockene Schachtel schimpfte, die ihn nicht befriedigt hätte. Um der lauten Argumentation zu entgehen, schloss Dr. Ferdinand trotz der Hitze im Wohnraum die Tür und holte sich die „Großen Philosophen“, als ob sie dazu etwas zu sagen hätten. Er las über den ionischen Philosophen Anaximander, der als Erster die Erdkarte gezeichnet und einen Himmelsglobus konstruiert hatte. Er lehrte als Erster, dass die Erde frei im Weltenraum schwebt, wo Sonne und Sterne sich auf der jeweils anderen Seite bewegen, wenn sie von ihrem Untergang am Horizont bis zu ihrem Wiederaufgang gelangen. Es war Anaximander, der als erster Grieche seine Einsichten und Erkenntnisse in Prosa schrieb. Aus seinem Denken kommt der Satz, dass der Ursprung ( arche ) der Dinge im Unendlichen ( apeiron ) ist, woher die Dinge des Seins kommen, die, wie im Kreis, dorthin wieder zurückkehren. Alles, was aus dem Unendlichen kommt, geht im Unendlichen wieder unter. Die Unendlichkeit war der Stoff, aus dem die Welten gemacht wurden, kamen und vergingen. Für den alten Thales, der wie Anaximander in Milet, der größten Handelsstadt Ioniens lebte, war es das Wasser, aus dem alles entstand, dem dann Heraklit von Ephesus (Kleinasien) fünfzig Jahre später das Prinzip des permanenten Fließens hinzufügte, das große Bild vom ständigen Kommen und Gehen der Dinge im Leben, ja des Lebens selbst. Diese griechischen Denker waren die frühen Vorläufer der Einstein’schen Relativitätstheorie. Dr. Ferdinand mochte das Bild vom ewigen Fließen, er wünschte sich, dass der große Strom die anachronistischen Unbilden des weißen Unrechtssystems möglichst bald wegreißt, damit etwas Neues mit einem menschlichen Gesicht entstehen kann. Die Evolution als der ständige Werdeprozess sollte hier nicht spurlos vorübergehen. Er sollte wie ein Vesuv die erstarrten Schichten der Unmenschlichkeit und der Toten nun endlich mit der glühenden Lava der hoffenden Herzen nach einem neuen Leben überziehen. Wie sagte doch der große Augustinus: „Desideravi, intellectu videre, quod credidi.“ ( Ich verlangte mit der Vernunft zu schauen, was ich glaubte ). Die Menschen schwiegen nicht in ihren Gedanken, wenn sie auch mit dem Munde schwiegen. Sie hatten gelernt, dass mit den Mächtigen, die ihnen Recht und Würde genommen hatten, nicht zu reden war.
Es war ein längeres Telefonat, das Dr. Ferdinand mit Deutschland führte, in dem über die Schießereien an der deutsch-deutschen Mauer berichtet wurde, wo der automatische Schießbefehl Menschen, die sich nach der Freiheit sehnten, aus dem Zwangskorsett der politischen Knebelung wie aus einer psychiatrischen Anstalt ausbrachen und sich meist nachts mit letzter Kraft über die Mauer warfen, zerlöchert in den Tod schickte, wenn sie nicht vorher von abgerichteten Schäferhunden, die an Leinen unter lang gezogenen Drahtseilen hin und her liefen, zerfleischt oder im vorgelagerten Todesgürtel durch Minen in der Luft zerrissen wurden. Die Menschen drüben in der DDR schwiegen beim Anblick der Mauer nicht länger. Sie schickten sich an, den Willen nach Freiheit mit Kerzen in der Hand auf die Straße zu tragen, war es in Berlin, Halle oder Leipzig. Die Allgegenwart der totalen Überwachung hatte sie in den Käfig gesperrt, was sie nicht länger ertragen wollten. Einer, der in vorderster Reihe mit den Menschen für die Freiheit auf die Straße ging, war Kurt Masur, Chefdirigent am Leipziger Gewandhaus, dem Haus, dem der junge Felix Mendelssohn Bartholdy, der Wiederentdecker von Johann Sebastian Bach, durch sein musikalisches Genie zu Weltruf verhalf. Die Betonmauer werde nicht mehr lange halten, das sagten die Menschen von drüben, auch wenn jener Anachronismus mit dem Käfigleben nicht in die Betonköpfe gehen wollte. Diese Politköpfe seien verkalkt und stünden moralisch im Abseits, was ihnen Bert Brecht nach dem Arbeiteraufstand im Juni 1953 bereits zugeschrieben hatte. Sie wären noch wackliger auf den Füßen als damals, weil Altersschwäche und Starrsinn hinzukämen, die sie für die notwendigen Dinge blind und die folgerichtigen Entscheidungen unfähig gemacht hätte. Der Beton säße fest in ihren Köpfen, der an der Mauer schon bröckelte, wo das Fundament so sicher nicht mehr war. Es sei nur eine Frage der Zeit, dass das Beben den betonierten Wahnsinn zu Fall brächte. Der Anrufer merkte an, dass es Schüler, Studenten und die arbeitende Jugend seien, die das Monster mit dem symbolträchtigen Werkzeug, wie es auf der Flagge des Arbeiter- und Bauernstaates zu sehen ist, zerschlagen und seine Erfinder zum Teufel jagen werden, vorausgesetzt, dass die russischen Panzer sich diesmal aus der deutschen Angelegenheit heraushielten. Der Anrufer traute dem Michail Gorbatschow die nötige Intelligenz zu. Die zweite und dritte Generation werde damit aufräumen, was ihre Väter und Großväter nicht konnten, die nach dem Krieg aus sibirischen Arbeitslagern zurückkehrten und an ein demokratisches Nachkriegsdeutschland glaubten, das sozial gerecht wäre in der Güterverteilung, die es nicht verhinderten, dass sich das System zwar sozialistisch nannte, es aber nicht war, weil es mit der gerechten Güterverteilung hinten und vorne nicht stimmte. Der Staat mit der Bruderpolitik und rigorosen Maulkorbpraxis machte keine Freude mehr, wo sich der Reichtum mit dem westlichen Luxus nur bei der Nomenklatura häufte, sei es durch Verscherbelung von Kunstgegenständen oder Verkäufe politisch Inhaftierter, während die Butter fürs Volk immer teurer wurde und der kleine Zweitakttrabant mit seinen stinkenden Abgasen über vier Jahre im Voraus bestellt werden musste. Dr. Ferdinand legte den Hörer auf und dachte bei einer Zigarette über die Parallelen der Ereignisse an der deutschen Qualitätsmauer und den verminten Feldern vor und hinter der angolanischen Grenze nach. Richtig parallel waren die Ereignisse nicht, da die Menschen hier zwar nicht in ihren Gedanken, aber mit den Zungen schwiegen, während die da drüben bereits die Hand vom Munde nahmen, wenn sie über den Staatsterror sprachen, den sie nicht weiter hinnehmen wollten und mit Kerzen in der Hand auf den Straßen für Frieden und Freiheit kämpften. Der Stoff, aus dem die Welten sind, liegt in der Unendlichkeit, der so einfach nicht zu begreifen ist, wo die Welten mit den menschlich-unmenschlichen Zusätzen wieder versinken, wenn sie erst einmal erstarrt sind, wie es das „ panta rhei“ des Philosophen Heraklit von Ephesus vorausgesagt hatte. Die Evolution verlangt eben nach ständig Neuem, wo der Mensch seine Chance zur Verbesserung wahrnehmen und sich darin wahr machen kann, wenn er dazu noch fähig ist. Woran kann und soll sich der Mensch ausrichten, wenn das Alte, was erstarrt ist, vergeht, und das Neue, was weich und noch formbar ist, kommt? Kann und will der Mensch aus der Geschichte lernen? Sicherlich ist alles im Fließen und physikalisch in relativen Bezügen. Doch wie ist es mit der Moral und Ethik? Welche Bezüge sind da zu begreifen und fürs Leben zu nehmen? Er holte sich sein Büchlein, das er vor Jahren geschrieben hatte, und las das Gedicht „Vaterland“, das er während seiner Vertretungszeit am Lauenburger Krankenhaus während der kalten Weihnacht 1978 mit dem Blick auf die deutsch-deutsche Grenze mit dem breiten Todesstreifen verfasste, als sich mächtige Eisschollen im Elbknie krachend ineinander schoben, verschichteten und türmten.
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