Der junge Kollege war allein im Untersuchungsraum 4 und gerade dabei, eine luxierte Schulter bei einem jungen Patienten einzurenken, was diesmal nicht so einfach ging, weil die rechte Entspannung fehlte. Die Kocher’schen Drehbewegungen des Armesbrachten den Kopf des Oberarmknochens nicht über die Lippeder Gelenkpfanne. Dr. Ferdinand streifte sich die rechte Sandale ab, setzte den Fuß in die rechte Achselhöhle des Patienten und zog den Arm am Handgelenk kräftig nach unten, wobei der Kopf mit einem Ruck die Pfannenlippe übersprang und in die Pfanne glitt. Diese Methode, die der geniale griechische Arzt Hippokrates vor über zweitausend Jahren in die Medizin eingeführt hatte, war erfolgreich, da der eingedrückte Fuß als Hebel ( Hypomochlion ) diente, über den der Kopf von der Pfanne weggestreckt wurde und so das Hindernis der Pfannenlippe überwand. An diesem Mittwoch kamen auch wieder einige Patienten von Schwester Maria Gottfried vom katholischen Missionshospital in Oshikuku. So setzte sich eine ältere Frau mit einem Erguss im linken Kniegelenk auf den Schemel. Sie übergab die Tüte mit den Röntgenbildern, auf denen das verschlissene Kniegelenk zu sehen war. Dr. Ferdinand punktierte den Erguss aus dem Gelenk ab und erklärte der Patientin, dass sie mit diesem Knie und erneuten Gelenkpunktionen leben müsse, da sonst nur eine Versteifung des Kniegelenks in Betracht käme. Die Patientin hatte es verstanden und nahm die düstere, schmerzhafte Prognose hin in einer Zeit des Fortschritts, wo das künstliche Hüft- und Kniegelenk in der Ersten Welt längst zur Routine gehörten. Er informierte Schwester Maria Gottfried durch einige Zeilen, die er auf die Rückseite ihres Briefes schrieb und der Patientin mit den Röntgenbildern in die Hand drückte. Der nächste Patient war ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, bei dem die acht Wochen alte Unterschenkelfraktur nicht abgeheilt war. Auf dem mitgebrachten Röntgenbild war die Bildung des Falschgelenks nicht zu übersehen, so dass der Patient zur operativen Bruchbehandlung stationär aufgenommen wurde. Ein kleines Mädchen wurde von der Mutter hereingetragen, dessen Zeige-, Mittel- und Ringfinger an beiden Händen einen gemeinsamen Hautmantel hatten, an dessen Ende die Fingernägel hervortraten, wobei sich der zweite und dritte Finger einen breiten Fingernagel teilten. Die Frage war, ob die zusammengewachsenen Finger ( Syndaktylie ) voneinander getrennt werden können. Dr. Ferdinand sagte der Mutter, dass die Finger getrennt werden könnten und erklärte ihr die Operation in groben Zügen, was ihr die Schwester übersetzte. In den Gesundheitspass trug er den Termin zur Operation mit einer Wartezeit von sechs Monaten ein, weil dann der Zeitpunkt zur Fingertrennung an der etwas größeren Hand ein besserer war. Die Mutter war zufrieden, packte sich das Töchterchen auf den Rücken, bedankte sich für die gute Nachricht und verließ den Raum. Der junge Kollege hatte indessen bei einem zehnjährigen Jungen einen Rucksackverband wegen einer linksseitigen Schlüsselbeinfraktur und zwei Unterarmgipse bei älteren Menschen mit gebrochenen Handgelenken angelegt. Er ging in der Arbeit am Patienten auf, was Dr. Ferdinand gefiel und ihn an den guten Dr. van der Merwe erinnerte, der so stark in der Arbeit aufging, dass er oft seine Uniform mit Gips völlig bekleckert hatte, weil ihm die Uniform nicht so wichtig war wie der Patient. Dieser Bauernsohn und Arzt aus dem Freistaat war eine rühmliche Ausnahme unter den jungen Leutnants, die im Allgemeinen darauf achteten, dass ihre Uniformen nicht durch die Arbeit beschmutzt wurden. Er freute sich, dass der junge Kollege in die guten Fußstapfen des Vorgängers trat.
Dr. Ferdinand wurde zum „theatre 1“ gerufen, wo Dr. Ruth dabei war, einen erschossenen, acht Monate alten Föten durch Kaiserschnitt zu entbinden. Eine traurige Geschichte, die hier kein Einzelfall war, wo Männer die werdenden Mütter belästigten, sie schlugen oder ihnen in den Bauch schossen. Der neunzehnjährigen Patientin, die auf dem Wege zur ihrer ersten Mutterschaft war, war die Gebärmutter völlig zerrissen, so dass sie entfernt werden musste. Die Blutung musste zum Stehen gebracht, ihr Leben gerettet werden. Sie hing am Bluttropf. Dr. Ferdinand assistierte den geburtshilflichen und gynäkologischen Teil der Operation, besah mit traurigen Augen den zerschossenen, fast ausgereiften Föten, der ein Junge werden wollte, und trug zum zügigen Verlauf der Hysterektomie bei, was für die Patientin einen geringeren Blutverlust bedeutete. Dann assistierte Dr. Ruth dem Kollegen bei der Darmresektion und Anastomose sowie der Wiederherstellung der Harnblase. Das Geschoss hatte die großen Beckengefäße nur knapp verfehlt, das hieß, dass die junge, werdende Mutter, der die menschliche Frucht schon im Bauch erschossen wurde, und die nun keine Mutter mehr werden konnte, nur knapp dem Tode entronnen war. Die Operation dauerte einige Stunden und ging bis tief in den Abend hinein. Dr. Ferdinand und Dr. Ruth dachten dem Leben etwas voraus, dem in so frühen Jahren das Glück für immer genommen war. Noch lag die Patientin auf dem Tisch, und die beiden Ärzte sprachen die möglichen Komplikationen durch, die eintreten konnten. Es bedrückte sie, dass dieser jungen Frau, wenn sie die Operation überstand, die Lichtseiten des Lebens genommen waren und nur die Schattenseiten blieben. Welcher Mann würde sie jemals wieder lieben oder zur Frau nehmen, wenn sie keine Kinder kriegen, mit ihm keine Familie gründen konnte? Es war ein so trostloses Bild, was sich da auftat, dass sie das Thema nicht weiter verfolgten, um der Frage aus dem Wege zu gehen, ob so ein Leben noch lebenswert war. Es sollte nicht weiter vorausgedacht werden, um nicht mit dem klassischen Verständnis des ärztlichen Ethos in Konflikt zu geraten, denn das nackte Leben der geschändeten Mutter stand auf dem Spiel. Die Achtlosigkeit vor dem Menschen und die frühe Verwerfung der menschlichen Frucht durch den gezielten Pistolenschuss zeigten auf die fürchterlichste Weise die Verheerung in den Köpfen und Herzen, deren Ursache nicht allein in der schwarzen Diskriminierung zu suchen war. Das Zusammenleben in gegenseitiger Achtung war auf das Schmerzhafteste bloßgestellt und gefährdet, zur äußeren Unsicherheit kam die innere dazu. Die Menschen wussten weder ein noch aus, sie suchten Rat und Hilfe im Gebet und in der Kirche. Sie trauten der eigenen Tradition nicht mehr viel zu, wozu die Verwüstungen der Felder und Krale und die täglichen Verletzungen durch Minen, die meist tödlich waren, erheblich beitrugen. „Man kann nur Gott danken“, sagte Dr. Ruth am Ende der Operation, „dass man in all den Jahren der Zerstörung noch unverletzt davongekommen ist.“ Dr. Ferdinand verstand sie und setzte dem Wort „unverletzt“ das Wort „körperlich“ voran, denn nach seinem Verständnis waren die seelischen Verletzungen, die das weiße Apartheidsystem den Schwarzen zufügte, enorm, so dass es Generationen dauern würde, bis diese Wunden heilten. Dr. Ruth war mit diesem Zusatz einverstanden. Es war kurz vor neun, als sie die Patientin gemeinsam vom OP-Tisch auf die Trage hoben und sie mit der offenen Frage in den Aufwachraum fuhren, was das Leben nun für sie bereithalten würde. Die beiden Doktoren setzten sich noch zu einer Tasse Tee in den Teeraum und sprachen ihre Gedanken aus, was aus einer Gesellschaft wird, die vor dem Leben keinen Respekt mehr hat. Dr. Ferdinand meinte, dass dort, wo Mord und Totschlag zum Alltag gehören, die Gesellschaft krank ist, den Anspruch auf Zivilisation verwirkt und im Abgrund der Selbstauflösung versinkt. Dr. Ruth, die hier aufgewachsen war und durch Spenden der Mission in Südafrika studiert hatte, sagte, dass es zu ihrer Kindheit noch Achtung vor dem Leben gab. Dr. Ferdinand wollte es nicht bestreiten und gab dem weißen Herrschaftssystem in seinem Anachronismus mit den militärisch überzogenen Auswüchsen und der allgemeinen Verarmung der schwarzen Bevölkerung den Großteil der Schuld. „Die menschliche Situation wird sich nicht bessern, solange der Krieg hier alles durcheinander schlägt.“ Dr. Ruth meinte dazu, dass es noch eine Weile dauern werde, bis der Krieg vorüber sei und fügte an: „Aber ewig kann der nicht mehr dauern, denn das südafrikanische Militär zieht sich bereits aus Angola zurück.“
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