Auf dem Weg zum „theatre“ fragte Dr. Ferdinand den schwarzen Kollegen Dr. Nestor, ob er vom Abzug der restlichen Kollegen in Uniform wusste. Er bestätigte die Mitteilung der Schwestern, weil er vor einigen Tagen auch davon gehört hatte. „Wir gehen einer schweren Zeit entgegen, wo das Letzte von uns gefordert wird“, sagte er mit besorgtem Gesicht, wobei er sich eines leichten Stotterns nicht erwehren konnte. Dr. Ferdinand las sein Gesicht und verstand sein Stottern. Er klopfte ihm mit den Worten auf die Schulter: „Aber unterkriegen lassen wir uns nicht! Wir müssen bei der Stange bleiben und beim Fähnlein der Letzten zusammenstehen.“ Dr. Nestor sah ihm in die Augen und traute ihm den Geist der Worte zu. Dr. Ferdinand bog vor dem „Outpatient department“ nach links ab, um die letzten Schritte zum OP-Haus zu nehmen. Er wünschte dem besorgten Kollegen Kraft und Zuversicht, der geradeaus zum internen Männersaal ging. Im Umkleideraum stand der junge Kollege und Schriftsteller, der sich bereits das Grüne übergezogen hatte und seine Verwunderung über den Wechsel auf dem Stuhl des Superintendenten und den Weggang des ärztlichen Direktors in der Colonelsuniform aussprach. Er drückte im Flüsterton aus, dass das Ende nun in Sichtweite sei. Dr. Ferdinand hatte ihn mit dem Wort „Ende“ verstanden, denn er hatte im Zusammenhang mit seiner Geschichte des schwarz-weißen Liebespaares schon vor Wochen gesagt, dass das aufgesetzte Burensystem keine Zukunft habe. Dr. Ferdinand ließ kein falsches Bild aufkommen und sagte ihm, dass die noch zu gehende Straße von Stolpersteinen und Minen voll gespickt sei und noch viele Opfer fordern würde. Der junge Kollege sah es ein und meinte leise, wobei er den Mund noch näher ans rechte Ohr des älteren Kollegen führte, der sich gerade das grüne Hemd überzog, dass den verstockten Buren der Verstand abhanden gekommen sei, um das mit weniger Waffen zu begreifen und in letzter Sekunde doch noch einzulenken, bevor sie das Gesicht ganz verlören. Wortlos gingen sie zum Waschraum neben dem „theatre 2“, um sich für die Operation, die Verschraubung eines Fußinnenknöchels, die Hände zu waschen. Dr. Lizette hatte die Patientin in den Schlaf gelegt, als die beiden mit grünen Kitteln den OP-Raum betraten und sich die Handschuhe noch überzogen. Die OP-Schwester hatte Fuß und Unterschenkel mit der braunen Lösung gesäubert und die Patientin mit grünen Tüchern abgedeckt. Dr. Ferdinand hatte die Fraktur freigelegt, um mit der Ahle das Loch für die Schraube in die Spitze des Innenknöchels zu drücken, als dreimal die Dorfsirenen aufheulten. Es war so still im OP-Raum, dass man eine Nadel hätte fallen hören, den keiner sprach ein Wort, in Erwartung des Riesenknalls und anschließenden Bebens, bei dem das letzte Mal der Instrumententisch durch den OP-Raum rollte und die Instrumente durcheinander klapperten, als wäre es ein Stück zeitgenössischer Musik, das mit Blechlöffeln wild auf einem Metallophon geklöppelt wurde. Dr. Lizette stand die Blässe im Gesicht, weil sie der Ruhe nicht traute. Sie sagte, dass sie nachts schon Alpträume hätte, in denen Granaten um ihr Bett herum einschlügen. „Das kann schon mal passieren“, meinte Dr. Ferdinand beiläufig, weil er sich auf das Eindrehen der Knöchelschraube konzentrierte. Erst hinterher fiel ihm ein, dass diese Bemerkung nicht gerade beruhigend und noch weniger geeignet war, die Angst von einem Menschen zu nehmen, der besonders sensibel war und mit diesen Ereignissen nicht vertraut werden wollte. Im Teeraum, als sie sich eine kurze Pause gönnten, während der nächste Patient zur Unterschenkelnagelung in den OP-Raum gefahren wurde, den Schwester Maria Gottfried vom Missionshospital Oshikuku mit der Falschgelenkbildung ( Pseudarthrose ) einer nicht abgeheilten Standbeinfraktur geschickt hatte, entschuldigte sich Dr. Ferdinand für seine beiläufig gemachte Bemerkung, die sich Dr. Lizette nicht so zu Herzen nehmen sollte. Er erklärte, dass im Augenblick des Sirenenheulens die Schraube den gebrochenen Innenknöchel nicht richtig festziehen wollte, und er sie durch eine längere ersetzen musste. Sie setzte die Teetasse zurück und meinte, dass sie ihn schon richtig verstanden hatte, und er sich über die Bemerkung keine Sorgen machen sollte. Ihr sei lediglich der Schreck in die Beine gefahren, dass es einen ähnlichen Knall geben würde wie im Fall davor, wo das Hospital zitterte, als hätte es ein Erdbeben gegeben und anschließend auch noch die Lichter ausgingen. Der junge Kollege griff das Bild mit den ausgegangenen Lichtern auf und sagte scherzhaft, dass die Lichter länger ausgehen würden, je näher die Knallerei ans Ende käme. Es war ein Satz mit doppeltem Denkboden, jedenfalls verstand ihn Dr. Ferdinand so, weil alle sich ein Ende der Knallerei wünschten, aber auch das Licht, um nicht im Dunklen zu sitzen, was psychologisch noch nie förderlich war. Dr. Lizette schmunzelte über die Doppelbödigkeit, die sie von dem jungen Kollegen, der doch ein uniformierter war, wenn er nicht die grüne OP-Kleidung anhatte, nicht erwartete. „Wie kommen Sie auf diese Idee, haben Sie denn schon länger ohne Licht gesessen?“, fragte sie ihn. Der junge Kollege war schlagfertig, als er ihr die Frage bejahte und es mit einer Examensarbeit begründete, wo ihm wirklich alle Lichter ausgegangen waren, weil ihm das Richtige zu spät einfiel. Nun lachten alle drei, weil sie sich über den Mut freuten, dass ein Mensch eine Schwäche zugeben konnte. Dieser Mut war meist nur Kindern und alten Menschen gegeben, die mit der persönlichen Eitelkeit noch nicht oder nicht mehr zu kämpfen hatten, und Dr. Ferdinand rechnete ihn dem jungen Kollegen positiv an. Dr. Lizette ging zum OP-Raum, um mit der Narkose zu beginnen, während der junge Kollege über den neuesten Stand an der Palliser Bucht berichtete, wo der junge Ehemann seine schwarze Ehefrau, die sich intervallartig in Wehen krümmte, mit dem Auto ins Hospital nach Wellington zur Entbindung brachte, die vorgeschriebene Geschwindigkeitsgrenze überschritt und fast einen Unfall verursacht hätte, als er ein anderes Fahrzeug nur knapp überholte. Die Schwestern bei der Aufnahme machten große Augen, weil sie eine schwarze Frau anscheinend noch nicht gesehen hatten, was sie erfreulicherweise nicht davon abhielt, sie höflich und mit der gebotenen Dringlichkeit zu behandeln. So entband die dortige Hebamme eine Stunde später einen gesunden Sohn mit je fünf Fingern und fünf Zehen und legte ihn hellhäutig in ihre dunklen Arme. Das Glück wäre perfekt gewesen, wenn nicht die Nachricht vom Tode ihres Vaters gewesen wäre, der einem Schlaganfall erlegen war, nachdem er und seine Familie von dem kleinen Stück Grund, auf dem sie lebten, solange sich die junge Mutter erinnern konnte, grundlos vertrieben wurden. Sie gingen zum Waschraum und wuschen sich die Hände, als Dr. Ferdinand das Bild von Glück und Unglück zu balancieren versuchte, was nicht klappte, weil die Dimensionen mit ihren Höhen und Tiefen zu unterschiedlich waren. Er hätte nur den Schriftsteller im jungen Kollegen fragen sollen, wie das mit der Vertreibung denn kam, dieser hätte ihm da eine ganze, separate Geschichte erzählen können. Doch das wollte er sich für später aufheben. Sie gingen an den OP-Tisch und stellten sich in Höhe des Unterschenkels gegenüber. Der nicht abgeheilte Knochenbruch wurde freigelegt und vom üppig gewucherten Bindegewebe befreit. Es gab wieder ein Problem bei der Auswahl des Marknagels, der entweder zu lang oder zu kurz war. Dr. Ferdinand nahm dieses Problem gelassen hin, denn er war lange genug hier, um endlich begriffen zu haben, dass er in der Dritten Welt war, wo ohne Improvisation nichts ging. Er nahm den zu kurzen Nagel und setzte ihm wegen seiner Kürze noch ein paar kräftige Schläge auf den Kopf nach. Der Bruch war gestellt und bewegte sich beim manuellen Verquerungsversuch nicht, so dass er dem jungen Kollegen Pinzette und Nadelhalter übergab und ihm beim Verschluss des Weichteilmantels assistierte. Ob es vorlaut oder Sorge war, es machte keinen Unterschied, als die schon ältere OP-Schwester den jungen Kollegen, der mit den Hautnähten begann, fragte, wie lange er am Hospital arbeiten werde. Dem jungen Kollegen rutschte vor Schreck die Pinzette aus der Hand. Sie fiel zu Boden, die Schwester drückte ihm eine andere in die linke Hand und wartete geduldig auf seine Antwort. „Genau kann ich es nicht sagen“, sagte er fast schüchtern, „doch ich glaube, es wird nicht mehr lange sein.“ Dr. Ferdinand war hellhörig, doch sagte er nichts, um ihn nicht noch mehr aus der Fassung zu bringen. Er tat ihm Leid, weil ihm die Arbeit gefiel und er in der kurzen Zeit viele Erfahrungen sammeln konnte. Auch dachte er an seine Liebesgeschichte, wo die junge schwarze Frau gerade einen gesunden Sohn entbunden hatte und ihr Vater einem Schlaganfall erlegen war. „Ich würde lieber länger hier bleiben als bald nach Südafrika zurückzugehen, denn ich habe hier viel gelernt, was ich dort so schnell nicht gelernt hätte. Dabei habe ich besonders gelernt, dass ich vieles noch zu lernen habe.“ Dr. Ferdinand war ergriffen, und Dr. Lizette schaute dem jungen Kollegen stehend und sprachlos in sein ausgeformtes Langprofil mit der hohen Stirn, den sensiblen Ohren und dem ansprechend gerundeten Hinterkopf. „Sie werden Ihren guten Weg auch dort unten fortsetzen“, meinte Dr. Ferdinand, „und das, was Sie hier gelernt haben, in guter Erinnerung behalten, weil Sie es dort brauchen werden. Sie sollen wissen, dass Sie hier auf Menschen gestoßen sind, die Ihnen gerne zugehört haben und die Ihnen auch etwas sagen durften.“ Der junge Kollege schien leicht in die Knie zu gehen, als er nach dieser Bemerkung den älteren Kollegen ansah, der ihm das Bein für den Wickelverband hochhielt, und meinte, dass er für eine solche Auszeichnung doch noch zu jung sei. Dr. Ferdinand spürte seinen Blick, ohne deshalb zurückzublicken. Menschliche Dinge von dieser Höhe laufen nur dort ab, wo der Mensch in Not gerät, darin gab es für ihn keine Frage mehr, als er das Bein fast dankbar für ein solches Erlebnis auf den Tisch zurücklegte. Die Atmosphäre blieb auch bei den folgenden Operationen gehoben, weil sich die menschlichen Gedanken und Gefühle auf die natürlichste Weise und sympathisch austauschten, die der Worte nicht mehr bedurften. Dr. Ferdinand stellte diesbezüglich einen Vergleich mit Deutschland an, das dagegen kümmerlich abschnitt, wo er beim Operieren solche Menschlichkeit nicht angetroffen hatte, was beim dortigen Wohlstand und Wohlstandsdenken auch nicht verwunderlich war. Dort hatten sich die Menschen, ob Ärzte, Richter oder Rechtsanwälte, in den Wohlstandskäfig verkrochen und die Augen vor den Mitmenschen spätestens seit dem Wirtschaftswunder verschlossen, wenn nicht schon früher, als die Nachbarn über und unter ihnen aus rassischen und politischen Gründen in Lebensnot gerieten, vertrieben und getötet wurden, oder nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft vor verschlossenen Türen oder fremden Männern standen und ihre Frauen sie nicht mehr wiedererkennen wollten. Kinder können davon erzählen, und man kann es nachlesen in Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“, Elie Wiesels „Die Pforten des Waldes“, Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“, Paul Schneiders „Der Prediger von Buchenwald“ oder den Abschiedsbriefen, gesammelt in „Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ ( Gollwitzer/Kuhn/Schneider ). Dr. Ferdinand hatte noch einige Sätze aus dem Abschiedsbrief des jungen Studenten Peronneau an seine Eltern im Gedächtnis, die ihn jedes Mal aufs Neue erschütterten: „Ich werde sogleich erschossen werden – um die Mittagsstunde, und jetzt ist es viertel nach neun. Verzeiht mir allen Schmerz, den ich Euch bereitet habe, jetzt bereite und noch bereiten werde. Verzeiht mir alle wegen des Bösen, das ich getan, wegen des Guten, das ich nicht getan habe. Mein Testament ist kurz: ich beschwöre Euch, Euren Glauben zu bewahren. Vor allem: keinen Hass gegen die, die mich erschießen ...“
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