Da stand sie auf, dieses junge Mädchen mit dem blonden Haar, entnahm aus ihrer kleinen Geldbörse 30 Cent, legte sie mit einem Lächeln auf den Zahltisch - und stieg aus, denn wir hatten die nächste Haltestelle erreicht.
Gerade konnte ich schnell noch durch die eben schließenden Türen hinausspringen und hinter dem Blondschopf herlaufen.
"Hallo, Sie liebe Frau, liebes Fräulein ...."
Ich konnte sie schlecht taxieren, ob sie nun 17, 18 oder gar 22 Jahre alt war. Sie hatte ein so unendlich sanftes, freundliches Gesicht.
Verlegen lächelnd blieb sie stehen.
"Ich möchte Ihnen Ihr Geld zurückgeben ...."
".... aber das macht doch nichts, es sind doch nur ein paar Cent! Das ist doch keine Affaire!"
"Ja, vor allem möchte ich Ihnen danken, ganz herzlich danken. Ich möchte Ihnen die Hand geben ... dreißig Cent mögen vielleicht kein großer Wert sein, aber Ihre Hilfsbereitschaft, Ihre Aufmerksamkeit ..."
"Es war mir für Sie so peinlich. Sie waren so verlegen ... und das kann ja jedem Mal passieren, unsereinem vielleicht eher als Ihnen ... vergessen Sie's!"
„Vergessen? So etwas vergessen? Nie! Tun Sie mir einen Gefallen? - Bitte tun Sie mir diesen Gefallen! Dort ist eine Bank. Dort kann ich mir Geld holen. Ich weiß, wenn ich Ihnen Ihre dreißig Cent zurückgebe, würde ich Ihnen eine Freude stehlen. Aber darf ich Sie zu einem Kaffee einladen oder zu einem kleinen Imbiss, irgendwo hier in der Nähe?"
"... aber ich habe eigentlich gar keine Zeit."
"Bitte, bitte! Ich möchte am liebsten mit Ihnen etwas feiern, etwas - nennen Sie es das Fest der Wiederbegegnung mit ... mit der Hilfsbereitschaft, mit ... ich weiß nicht, wie ich's sagen soll!"
Eigentlich wollte ich sagen, einer Wiederbegegnung mit der Liebe. Aber das hätte sie wohl missverstanden. Vielleicht wäre ich ihr damit zu nahe getreten.
Sie nickte. Und wir gingen Seite an Seite zur Filiale einer Bank. Ich bat sie zu warten. Ob sie so voller Liebreiz war, wie ich sie jetzt in Erinnerung habe, ich weiß es nicht. Sie schien mir in dieser Minute das schönste Mädchen zu sein, dem ich seit langem begegnet war. Ein wenig hatte ich Angst, sie sei verschwunden, sei voller Bescheidenheit ihres Weges gegangen. Ich hätte jubeln können, als ich sie noch dort stehen sah, bereit, mich ein Stück zu begleiten.
Ein stilles Cafe zu finden, ein Eckchen in einer Pizzeria, war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein rauchige Kneipe, nein, das wäre ihr nicht zuzumuten gewesen. Wir kamen ins Gespräch. Sie hatte ja längst erkannt, dass ich nicht aus dieser Stadt war. Von weither. Ein Fremder.
Eine große Kirche lag am Wege, inmitten eines ungepflegten Platzes. Kopfsteinpflaster. Papierfetzen, Plastiktüten und Kartons lagen herum. Beim näheren Hinsehen erkannte ich erst, dass es sich bei dieser Kirche um eine gewaltige Ruine handelte. Die Fenster waren nur noch rostige Gerippe in neugotischem Maßwerk. Granateinschläge und Bombensplitter hatten aus den Mauern größere und kleinere Löcher herausgesprengt. Die breiten Portale waren mit längst verwitterten Brettern vernagelt. Vergammelte Schilder warnten "Betreten verboten - Lebensgefahr!". Tauben hatten von dem ganzen Bauwerk Besitz ergriffen. In Bergen von Kot flatterten kleine Federn.
"Kommen Sie, ich zeig' Ihnen was!" sagte sie. Das Mädchen zog mich durch eine schmale Seitentür ins Innere eines turmähnlichen Anbaus. Ich folgte ihr viele, viele enge Wendelstufen nach oben. Fensterschlitze, Schießscharten ähnlich, ließen immer mal wieder einen schwindelerregenden Blick in das zerstörte Kirchenschiff zu. Dann öffnete sie eine ehemals weiß lackierte, arg verkratzte Tür, und wir gelangten in einen überraschend heimeligen, intakten Raum. Auf behelfsmäßigen Tischen standen Bastelarbeiten herum, aus Keramik, aus Holz, kleine Bilder, alte Fotos in dunklen Rahmen. Kreuze aus verkohlten Holzresten. Bruchstücke von Heiligenfiguren und sakralen Gefäßen, zu kleinen meditativen Objekten verarbeitet. Alte Becher mit Pinseln und Spachteln, Töpfe mit Klebstoff standen herum. Handwerkszeug daneben, als sei die Arbeit nur kurz unterbrochen worden. War dies die Werkstatt meiner Begleiterin? So ein gütiges Herz, lag es nicht nahe, dass sie eine Künstlerin war?
Ich war so in die Betrachtung all dieser Dinge versunken, war auch noch trunken von dem Glück, diesem Mädchen begegnet zu sein, dass ich zunächst die unheimliche Stille nicht wahrnahm, die mich umgab. Eine absolute Geräuschlosigkeit. Das Knarzen der Dielen hatte aufgehört. Auch das Gurren der Tauben in den Fensterhöhlen. Erschrocken blickte ich auf. Das Mädchen war verschwunden! Auch der Raum um mich herum hatte sich in Nichts aufgelöst. Ich stand allein, schwindelnd, am Rand des eingestürzten Gewölbes, sinnlos ragten die Säulenstümpfe nach oben, mit geborstenen Kapitellen. Mir war, als müsse ich jeden Moment abstürzen. Mörtel bröckelte unter meinen Füßen. Ein Brocken löste sich, fiel in eine schier endlose Tiefe und zerplatzte schließlich mit lautem Echo auf dem Steinboden der Kirche.
Als ich wieder zu mir kam, stand ich an einem Automaten und zog für sieben Euro eine Mehrfahrtenkarte für den Bus. So sehr ich mich umschaute, da war weder eine Kirche, noch - wie ich sehnlichst erhoffte - das blonde, liebreiche Mädchen. Ja, es stimmte: Ich hatte Geld abgehoben in der Bank. Wann aber war in mir der Film gerissen?
Nein, ich wehrte mich heftig dagegen, dass alles nur ein Traum hätte sein können. Alles, die fehlenden dreißig Cent, der dienstbeflissene Schaffner, das gütige Fräulein. Für sieben Euro eine Mehrfahrtenkarte - wo war ich, dass die Tarife so preiswert sein konnten?
Natürlich ein Traum.
"Immer träumst du so etwas, immer. Immer verschwindet bei dir eine Frau. In allen deinen Geschichten. Kaum ist sie dir nahe, kommt etwas dazwischen. Sie entschwindet. Du weißt nicht einmal ihren Namen. Madlon verschwand, Sefire auch und Jana. Du quälst dich. Es ist eine Tortur. Warum suchst du ihre Gesellschaft?"
"Sie kommen zu mir, als ob sie geflogen kämen. Sie sind da, greifbar, sie sprechen zu mir. Ich spreche zu ihnen. Sie gehen mit mir des Weges. Alles ist unzweifelhaft real. Nein, es ist nicht so, als ob ich sie zu lieben begänne. Nein, ich liebe sie, sehnte sie herbei von der ersten Sekunde. Endlich, dachte ich, endlich bist du da. Und dann? Zerronnen! Dann beginne ich zu suchen. Gestern, in der Ausstellung, stand ich hinter einer solchen Frau und ertappte mich dabei, dass ich sagen wollte: 'Da bist du ja, Stella, wie lange habe ich nach dir gesucht, seit damals, du weißt schon, im Bus, als du mir dreißig Cent ausgelegt hattest und wir in diese Kirchenruine gestiegen sind ...'. Dann war mir wieder klar, dass alles ein Gaukelspiel ist. Vielleicht bin ich verrückt. Mag ja sein. Ich weiß ja nicht einmal ihren Namen. Warum sollte sie ausgerechnet Stella heißen?"☺
Kyra - oder diese kleine Handtasche
Es war nicht viel Betrieb am S-Bahnsteig. Die einen waren bei der Arbeit, die anderen beim Shoppen, wie man heute zu sagen pflegt. Noch andere würden nie mit der S-Bahn fahren. Dazu wären sie sich zu fein. Oder warum auch?
Da stand nur diese junge Frau. Irgendwas zwischen 18 und 25. Ich weiß nicht, weshalb ich mehrfach zu ihr hinüber schaute. Vielleicht war es ihre eigenartige Kleidung, ihr weißer Kurzmantel mit den großen schwarzen Knöpfen, darunter die hellblauen Jeans und ziemlich neue Sneakers. Ein grauer, grob gestrickter Wollschal um den Hals. Naturkrauses, etwas rötlich wirkendes Haar. Alles dies habe ich nur im Unterbewusstsein wahrgenommen. Die Frau war eben nur eine andere S-Bahn-Fahrerin auf dem fast leeren Bahnsteig. Ach ja, und dann war da noch eine kleine weiße, kästchenförmige Handtasche, mit schwarzen Nähten, die sie mit beiden Händen vor sich fest hielt.
Die Bahn fuhr ein. Die Frau lief zu einer der hinteren Türen. Ich stieg vorn ein. Alles völlig normal. Nicht der Erwähnung wert. Aber als die Bahn anfuhr, als sie an Tempo zunahm, kam die Frau, sich mehrfach an Griffen festhaltend, auf mich zu und setzte sich neben mich, obwohl noch viele andere Plätze frei gewesen wären.
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