Melanore trat beherzt auf die Strasse – niemand nahm Notiz von ihr bis auf Brecht, dem sie, im Vorbeigehen, gewohnheitsmäßig ein paar Münzen zusteckte. Sollte sie sich Brecht anvertrauen? Sie eilte die belebte Gasse hinauf, nur um zu überprüfen, ob ihr Zustand weiter anhielt. Sie lief durch die Menge, sie tauchte durch eine Schar Frauen hindurch und ließ sie unberührt hinter sich zurück. Tote Gegenstände blieben ein Hindernis, das musste sie schmerzhaft erfahren, als sie gegen ein aufgestelltes Weinfass stieß.
Sie rieb sich mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht das Schienbein und fluchte – hören konnte sie augenscheinlich auch niemand, denn nicht einer reagierte mit einem tadelnden Blick oder schelte sie zur Ruhe und Beherrschung, wie es einer Dame in ihren Stand zuträglich war – jedenfalls den Ortsfremden.
Niemand sah und bewunderte ihr elegantes Kleid, das prunkvoller nicht sein konnte.
Sie war ein Geist – war sie bereits tot? Nein, ihren Körper trug sie bei sich und lag nicht regungslos in ihrem Bett.
Gerade als sie zu Brecht zurückging, um ihn anzusprechen, wurde sie gewahr, dass er bereits den Weg zur nächsten Taverne ansteuerte. Sie beobachtete ihn von weitem, wie er seinen Weg zielsicher durch die Menge suchte. Melanore beschleunigte ihren Schritt und kurz bevor sie bei ihm anlangte, stolperte sie erneut, aber diesmal über ihre eigenen Füße. Sie fiel und glitt ohne Widerstand durch den Bettler hindurch. Melanore fluchte und schelte sich eine Idiotin. Anscheinend hatte sich ihr Zustand verändert, nicht mal der liebenswerte Brecht konnte sie mehr sehen. Was war das nur für eine Teufelei? Sie blieb einen Moment im Staub der Straße sitzen und sah sich eingehend um. Ein voll beladener Pferdekarren kam heran. Der Gaul, der ihn zog, lahmte bereits. Die Menge machte Platz, nur Melanore blieb sitzen. Der aufgebrachte Händler trieb das arme Tier zu Höchstleistungen an. Sie hörte bereits sein Schnaufen über sich und das Knarren der Holzräder allzu deutlich. Das Pferd glitt durch sie hindurch, der Wagen folgte rumpelnd. Ihr Zustand war besorgniserregend – ganz ohne Frage. Nicht mal ein Prickeln verspürte sie. Jetzt, so schien es, war sie vollkommen aus der Welt getilgt. Wie sollte sie etwas essen? – beunruhigt legte sie ihre manikürten Finger auf den bereits knurrenden Bauch. Keine Brateier, keine Würstchen und keine gut belegte Semmel an diesem verfluchten Morgen. Melanore fühlte sich ganz elend – und wie angeflogen spürte sie einen bohrenden Hunger. Sie stand mühsam auf, klopfte sich das weit ausladende Kleid ab und folgte der Krämergasse, die irgendwann im Hafenviertel und am Hafenbecken mündete. Sie brauchte Luft, ihre Welt war plötzlich auf den Kopf gestellt und die Gassen und die Menschen schienen sie zu beengen – was natürlich albern war, in ihrem Zustand. Mit leerem Blick machte sie sich auf den Weg. Als sie endlich an den Rand des Kai´s gelangte, fühlte sie sich auf wundersame Weise beruhigt und fühlbar besser. Sie sah in den blauen Himmel, einige Möwen kreisten ruhelos in der warmen Luft, es roch nach Fisch und schmeckte nach Salz. Taue schlugen gegen Masten. Segel spannten sich oder blähten sich knatternd auf. Fischhändler boten ihre frisch gefangenen Schätze feil. Wasserhändler verkauften ihre frische Ware – Süßwasser der Bucht, das aus dem Fluss Stich hierher strömte. Sie schöpften es in den frühen Morgenstunden auf der Meeresoberfläche ab und füllten es, an Bord, direkt in Flaschen. Es war ein belebter Ort voller Farben und Betriebsamkeit. Die Sklavenhändler, die ihre menschliche Ware an Ketten gebunden im Gänsemarsch zur täglichen Auktion führten, verdarben ihr den Tag vollends. Für diese armen Seelen verspürte sie Sympathie und Mitleid, ihr Schicksal war dem ihren sehr ähnlich. Unbewusst lief sie den Kai entlang in Richtung Altstadt.
Der unwegsame Pfad stieg an und das Kleid erwies sich als absolut störend. Mühselig raffte sie ihren Rock und ging vorsichtig weiter. Hoffentlich tat sich nicht der Boden unter ihr auf und würde sie verschlingen. Aber nach ein paar weiteren Schritten in Richtung Friedhof fasste sie neuen Mut. Immer wenn sie verzweifelt war, unternahm sie diesen Ausflug. Ihr Bruder lag dort oben. Er war schon sehr früh an Pocken erkrankt – mit zehn Jahren verstarb er und hinterließ in der Familie pure Verzweiflung. Er sollte das Oberhaupt der Familie sein, jetzt war er nur noch Staub. Wenn es schwierig wurde oder sie unbedingt einen Rat brauchte, suchte sie sein Grab auf. Dort saß sie dann und erzählte Stunde um Stunde, bis die Nacht sich silbrig auf die Grabsteine legte. Ihre Klagen blieben zwar ungehört – dennoch fühlte sie sie danach erleichtert und gestärkt.
Ihre Mutter war nie eine Hilfe. Nach dem Tod ihres Sohnes verkaufte sie Melanore leichtfertig an einen Puffbesitzer. Vater war schon längst über alle Berge, schon nach der Geburt Melanores suchte er das Weite. Vielleicht war dies auch besser – denn sie schwor ihm die Eier abzuschneiden, sollte sie ihm jemals wieder begegnen. Müde und leicht erhitzt erreichte sie den Friedhof. Er befand sich auf einer Anhöhe. Die verschiedenartigsten Grabsteine blickten in den Norden Richtung Stadtzentrum. Von hier oben war die Aussicht wirklich außergewöhnlich. Aus dem Häusermeer erhob sich bleich und stolz der Turm der Einstigen, der jedes Bauwerk in der Stadt majestätisch überragte. Er war der Stadt ein Rätsel, ein allgegenwärtiges Geheimnis, denn niemand vermochte in sein Inneres zu gelangen, indem sich angeblich die Weltenbibliothek befand. Jedes Jahr fanden sich Unmengen von Wesen der unterschiedlichsten Couleur ein. Sie lagen in einem Wettstreit – die Teilnehmer maßen ihre Kräfte und versuchten in den Turm einzudringen, doch schon mehr als 500 Jahre war es niemanden der unzähligen Freiwilligen gelungen. Der Turm wahrte entschlossen sein Geheimnis. Freiwillige stürzten in den Tod, bei dem Versuch die Fassade hinaufzuklettern und die oberen Kammern zu erreichen. Ein Ring aus Erkern thronte dort und für jedermann ersichtlich gab es dort Fenster in luftiger Höhe, doch bisher hatte sie niemand auch nur annähernd erreicht. Kein Mensch konnte dem Turm sein Geheimnis entreißen und das Benutzen von Flugtieren war strikt verboten. Einmal, so sagte man, habe ein Dieb versucht, mit Hilfe eines Drachen dort einzudringen. Als er die Erker erreichte, ging er prompt in Flammen auf. Der Feuerball senkte sich kometenhaft zu Boden und entzündete das nahe gelegene Rathaus. Nach diesem gescheiterten Versuch waren Flugtiere jeder Art untersagt und alle, die sich dieser Geschichte entsannen, verzichteten freimütig auf derartige Eskapaden.
Melanore setzte sich vor das Grab ihres Bruders. Der Stein war in einem tadellosen Zustand, der Rosenbewuchs gepflegt. Unkraut hatte hier das Nachsehen. Sie seufzte, die Sonne neigte sich und das Licht nahm stetig ab. Die umstehenden Bäume rauschten eigenwillig. Es hieß, es würde auf diesem Grund spuken. Seelen von der Küste aufsteigen. Der Friedhof wurde durch die stete Brandung unterhöhlt. Es gab Katakomben, endlose Röhren, die die Stadt von unten aushöhlte. Diese Anlage war alt und marode, viele Gänge des weit verzweigten Labyrinths unterspült. Stellenweise brachen diese Katakomben ein und rissen ganze Häuserblocks in die stinkende Tiefe. Leichen wurden vom eindringenden Meerwasser fortgetragen, hinaus in die Bucht. Und so mancher kehrte wieder – die Magie im Wasser ließ sie auferstehen, so glaubte man. Schon oft trottete einer dieser Wiedergänger mitten am Tage durch die belebten Gassen der Slums. Einige Frauen meinten tatsächlich ihren vermissten und längst verstorbenen Ehemann wieder zu erkennen. Die Untoten wurden von der Stadtwache gestellt und kurzerhand in Asche verwandelt – oftmals unter den Tränen einiger Beistehender, angeblicher Angehöriger. Ja, so war das, die Magie war außer Rand und Band – und sie brachte in diesen Tagen mehr Kummer als Nutzen. Melanore stimmte eine Melodie an. Ein Wiegenlied, das dumpf in ihrem Inneren nachhallte, ausgesprochen schlechte Gefühle wurden an diesem Abend heraufgespült. Ihr Mund war trocken – sie ängstigte sich. Wie lange würde dieser Zustand der Unsichtbarkeit anhalten? Selbst der Gärtner, der den klangvollen Namen "Brim Kundwar" trug und den sie schon seit Jahren kannte, war unverdrossen an ihr vorbei geschlichen. Er hatte ein böses Knie, irgendeine Verletzung aus den Drachenkriegen, wodurch sein Gang grotesk und irgendwie unmenschlich wirkte. Wie sollte sie etwas essen? Sie nahm die Kanne, die zum Gießen der Blumen diente – vergeblich, ihre Hand wischte widerstandslos durch das Tongefäß. Also mit trinken wurde es auch nichts, stellte sie resigniert fest: "Bruder – sterbe ich? Ich kann nichts mehr anfassen und niemand scheint mich zu sehen – ist so der Tod? Ich weiß, du hörst mich irgendwo da draußen – bitte sei so gnädig und antworte mir. Ich hab eine scheiß Angst. Wo ist der Tod? Das Licht, von dem die Priester mit glasigen, entrückten Augen schwärmerisch sprechen?"
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