Vivan erkannte einige der Kisten, sie stammten eindeutig von seinen illustren Kunden. "Pesch Handelsland" stand schwerlich lesbar auf einer der überwucherten Kisten. Verdammt, er hatte wirklich ein Wörtchen mit seinem getreuen Boten zu reden. Vivan wurde unwohl, jeder weitere Schritt förderte weitere Kisten zu tage. Hier lag ganz offensichtlich Ware der letzten Monate – das hieß die Piraten waren ganz unweigerlich wieder nüchtern und nüchterne Piraten waren mehr als gefährlich für den städtischen Frieden. Vivan erreichte endlich den Höhleneingang. Überall türmten sich die Schädel. Es waren auf den ersten Blick nur menschliche Gebeine, die sich hier zu einer massiven Wand auftürmten. Aber bei näherem Hinsehen fand er auch Schädel von Zwergen und die Gebeine von den viel seltneren Elfen. Sie waren gut unterscheidbar in ihrer Ausprägung, insbesondere was die Ohren anging. Vivan war sich gewiss, er betrat einen Friedhof von Generationen. Der Name dieser Schlucht war nicht mehr rätselhaft eher ganz offensichtlich – plausibel. Langsam bahnte er sich einen Weg durch die Gebeine, er ängstigte sich nicht vor den Überresten der zahllosen Toten, vielmehr drang er immer tiefer in die Höhle ein. Sie war geräumig, fast wie ein Felsendom. Von überall her drang Licht auf den vielschichtigen und unebenen Knochenboden der Höhle. Es roch unangenehm und stellenweise gab es ganze Haufen von einem undefinierbaren Kraut, das Stroh ähnelte. Allerlei Getier wimmelte in den Hügeln aus Gräsern und getrocknetem? – Kot? Vivan sah forschend hinauf. Er musterte die Umgebung ganz genau. In der Mitte der unterirdischen Kammer entdeckte er über sich eine kreisrunde Öffnung, hoch oben im Felsgestein. Ein gähnender Mund an dem schwere, grauen Wolken vorbeizogen.
Vivan schmunzelte. Ein Geräusch riss ihn aus seiner nachdenklichen Stille. Da lag es. Ein bronzefarbender Lindwurm gebettet auf Stroh. Sein Kopf erhob sich majestätisch. Bedrohlich überragte das Reptil den überraschten Händler. Sein Kopfschmuck, bestehend aus einem Fächer aus Hornspitzen, reichte beinahe bis an die Decke der geräumigen Höhle. Diese Knochenkrone unterstrich noch seine adlige Haltung zusätzlich. Die blauen Augen fixierten Vivan, der ganz still stehen blieb und sich voller Bewunderung nicht mehr rührte. Das Wesen war voller Anmut und Schönheit. "Nun, mein Freund, es hat ja nicht lang gedauert bis du dich auf den Weg gemacht hast." Vivan erkannte die Stimme sofort – sie dröhnte durch die felsige Halle und ließ Fledermäuse aufschrecken. Es war die warme Stimme seines Schützlings und Freundes Keleran. Vivan nickte verhalten, er konnte den Blick nicht von dem Drachenweibchen abwenden, das sich entspannt ausstreckte um sich auf die goldenen Eier zu legen, die feinsäuberlich angehäuft direkt vor ihr im Nest ruhten.
"Ja, – du siehst es richtig, ich werde tatsächlich Vater!"
Stolz schritt Keleran zu seinem Weibchen. Zärtlich breitete er seine Flügel aus und schirmte die ersten Regentropfen, die von oben hereindrängten, von seinem Gelege ab.
Vivan setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht verriet Erstaunen, er lächelte von Zeit zu Zeit geistlos.
"Es ist unglaublich, wie ist das nur möglich? Nie hätte ich gedacht, dass so etwas geschehen kann."
"Ich auch nicht Herr – ich war genauso überrascht in dieser Riesenkanalisation einen Drachen zu finden, und noch dazu ein läufiges Weibchen. Ich hab sie gerochen, schon vor Wochen. Aber ich habe es falsch interpretiert, diese Fäkalien haben den Geruch übertönt und ich bin ein unerfahrener und…"
"Trotteliger!" ergänzte das Weibchen mit einem liebevollen Seitenhieb und grinste dabei zum Verlieben.
"Und trotteliger Drachenjüngling!" bestätigte Keleran.
"Und die Kisten? Ich meine, Deine Arbeit."
"Arbeit?" Die Drachen sahen sich betroffen an.
"Ich meine den Stoff für die Piraten?" Vivan sah die beiden Geschöpfe herausfordernd an.
"Leider – ich hatte anderes zu tun, du verstehst?" Kelerans Blick pendelte verschwörerisch zwischen ihm und seinem Weibchen.
Vivan stöhnte – bei allem was ihm lieb war, aber das war eine Katastrophe. Die Piraten waren in der Zwischenzeit nüchtern wie nie zuvor. Die Gilde war eindeutig eidbrüchig geworden, hatte versäumt die Piraten mit Peschkamer zu versorgen. Das bedeutete ganz ohne Zweifel: Krieg. Ihre neu gewonnene Kraft und Motivation würden sie ohne Umscheife an der Stadt auslassen und insbesondere an der Handelsgilde. Bilder von Zerstörung und Gewalt spulten sich vor Vivans innerem Auge ab und ängstigten ihn.
"Herr ihr seid ganz weiß geworden!"
"Allerdings!" Vivans Stimme klang ungewohnt schrill. Diese Hiobsbotschaft und die Hitze ließen ihn fast kollabieren – denn ringsum lagen Felsen, die rot glühten und eine ungeheure Wärme abstrahlten. Vivan kannte diese Vorgehensweise. Felsen wurden durch das Drachenodem erwärmt und gaben die Hitze nach und nach ab, so war ein natürlicher Ofen entstanden.
"Ganz ruhig!" Keleran war herangetreten und fächerte dem verzweifelten Vivan frische Luft zu.
"Der Mensch muss übrigens sterben! Das weißt du hoffentlich!" Das Weibchen hatte sich wieder aufgerichtet und streckte ihren langen Hals bedrohlich nach vorn. Ihr Atem kam näher und es roch betäubend nach halbverdautem Fleisch.
Keleran schien genauso erschrocken über die Äußerung seiner Gefährtin wie Vivan selbst. Lange sahen sich die Freunde prüfend an. "Er wird uns nicht verraten!"
Der mächtige Kopf des Weibchens war noch näher gekommen. Misstrauisch beäugte sie den Fremdling, der vor ihr immer kleiner wurde und sogar zu zittern begann.
"Er hat mich großgezogen und ich werde es nicht zulassen, dass du ihm ein Leid antust! Fairlenor – glaube mir, er ist absolut vertrauenswürdig." Das Weibchen fauchte unwillig. Der Geruch ließ Vivan fast in Ohnmacht fallen.
Keleran sah seine Gefährtin flehend an.
"Ich stehe in seiner Schuld – übrigens Schuld, ich weiß was zu tun ist!" Kelerans Stimme klang enthusiastisch.
Vivan richtete sich wieder auf, dieser Stoß aus den Nüstern des Weibchens hatte ihn glatt umgeworfen.
"Was, was meinst du?" fragte das Weibchen misstrauisch.
"Die Piraten, um sie werde ich mich kümmern!" Kelerans Stimme klang fest und entschlossen.
Der Drache spreizte seine mächtigen Flügel und mit einem lautlosen Hüpfer flog er empor. Vivan sah ihm ratlos nach, während sich der schlanke Körper des Lindwurms zielsicher einen Weg durch die Deckenöffnung bahnte.
"Was soll das?" Vivan wurde erst jetzt gewahr, dass er mit dem Weibchen allein in der Höhle stand.
"Er bleibt dir nichts schuldig Menschlein!" zischte Fairlenor hervor, bedrohlich ragte sie vor ihm auf.
"Er wird die Pläne der Piraten vereiteln – niemand wird überleben." Ihre blauen Augen suchten den Blick des Kaufmanns. "Alles wird brennen!"
Der Abend dämmerte. Der Vorposten der Küstenpiraten schrie wie von Sinnen als sich die rätselhaften Schatten am Himmel abzeichneten.
Ein Feuer kam über sie. Die Menschen gingen auf wie Fackeln. Asche regnete es und ein beißender Nebel nahm ihnen den Atem. Noch eh sie wussten, wen, von ihren Kumpanen sie gerade einatmeten oder was über sie hinwegfegte, erloschen sie im Augenblick ihrer Zweifel. Eingeäschert an Ort und Stelle. Viel wurde über dieses Drama geschrieben – doch niemand der Überlebenden konnte mit Gewissheit sagen, was an diesem Abend den Tod brachte. Nur ein Zischen gefolgt von einer Flammensäule, mehr wurde nicht beobachtet. Keleran leistete ganze Arbeit. Nur wenige überlebten dieses Flammeninferno. Der Angriff erfolgte in drei Schüben. Dazwischen suchte sich der Drache, in einiger Entfernung, einen Aussichtpunkt und besah sich die Arbeit seines Drachenodems aus sicherer Ferne.
Verheerend wütete das entfesselte Feuer in der Stadt der Piraten. Dabei handelte es sich eigentlich um keine Stadt, dem Sinne eher ein Umschlagplatz, an dem mehr und mehr Leute sich mit der Zeit ansiedelten. Die wild zusammengezimmerten Baracken brannten wie Zunder. Ein gefundenes Fressen für den zerstörerischen Speichel der Lindwürmer.
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