Einige Lichtstrahlen fielen durch ein hohes Fenster auf den konzentrierten jungen Mann.
Der Lehrer, als habe er den allgemeinen Spaß nicht bemerkt, räusperte sich und begann, seine Schüler weiterhin mit leiser Stimme an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Die Brancacci-Kapelle führte seine Gedanken schnell in die Vergangenheit und seine jungen Jahre. Gern erinnerte er sich an die vielen Stunden, die er mit Donatello verbracht hatte, der vor langer Zeit in eine andere Welt übergegangen war. Der alte Bertoldo fühlte sich dem großen, ewig jung gebliebenen Masaccio sehr verbunden, denn Donatello war ihr gemeinsamer Lehrer gewesen. Ihr berühmter Lehrer und Bildhauer hatte mit seinen Werken, die so voller Wahrheit und natürlicher Authentizität waren, unvergessliche Spuren in der Geschichte Italiens hinterlassen. Donatello hatte die Traumwelt der aristokratischen Schönheit, voller Romantik und Bedingtheiten, abgelehnt – deswegen war er so groß und berühmt geworden.
Bertoldo di Giovanni war sehr stolz darauf, dass sein Name in direkter Beziehung zu diesem großen bekannten florentinischen Namen stand. Und mit einem ganz besonderen Gefühl erfüllte ihn der Gedanke, dass seine Skulpturen und Arbeiten künftigen Generationen von Florentinern als Vorbild großer Schöpfungen erhalten bleiben würden ...
„Francesco, vergiss nicht – du bist in der Kirche und nicht auf einer Vergnügungsreise. Du brauchst ein Stück Kohlekreide zum Zeichnen und einen Kopf zum Denken, aber keine aufgerichteten Ohren, um dem Blödsinn der Nachbarn zu lauschen. Ich habe ein gutes Mittel, um deinem Kopf zu helfen, schneller zu denken.“
Überraschend munter erhob sich Bertoldo di Giovanni plötzlich von der Bank, auf der er während seines Vortrags gesessen hatte, schwang seinen Stock und schlug Francesco Granacci damit leicht auf den Rücken. Der Klang des Holzstocks auf dem knöchernen Körper erschallte in der Kapelle, wurde nach oben getragen, verharrte kurz unter dem hohen Gewölbe und senkte sich mit dem unangenehmen Geräusch fallender trockener Erbsen wieder hinab.
Der alte Mann wandte sich seinen Schülern zu.
„Und du, Torrigiano, merke dir endlich einmal: du bist hier, um ein Bildhauer zu werden, kein Hofnarr. Bei deiner Geburt hat der liebe Gott dir mehr Arroganz als Talent gegeben. Denk mal darüber nach, was du in deinem Leben wirklich erreichen willst. Wenn du in meiner Schule bleiben möchtest, zeige etwas mehr Fleiß und Gehorsam. Ich werde dir nicht hinterherlaufen. Denk gut daran – es ist meine letzte Warnung.“
Bertoldo di Giovanni ging mit langsamen, schweren Schritten durch die Kapelle, stützte sich auf seinen Holzstab und sah sich aufmerksam um. Endlich hielt er an, stand ein paar Minuten sinnend da und sagte dann zu den verstummten jungen Männern:
„Jeder von euch wird jetzt beginnen, die Freske zu kopieren, die er gestern gewählt hat. Diejenigen, die ihr Herz nicht für ein gesamtes Bild erwärmen können, sollten ein bis zwei Lieblingsmotive nehmen. Auf euren Bildern möchte ich eine menschliche Figur, Körperhaltung, einen menschlichen Gesichtsausdruck sehen. Lasst die Bäume oder Naturgebilde weg. Ich weiß, dass jeder von euch gut zeichnen kann. Das brauchen wir aber nicht für diese Aufgabe.
Meine Schüler! Ich möchte, dass ihr versteht, wie man einen Menschen in der richtigen Perspektive auf die flache Leinwand bringt. Dieses Wissen werdet ihr später brauchen. Ihr werdet es in künftigen Schöpfungen umsetzen und in Stein meißeln. Mir ist wichtig, dass ihr lernt, einen lebendigen Menschen zu zeigen, sein lebendes Gesicht, seine lebende Körperhaltung, wie Masaccio sie gezeigt hat.
Kopiert von einem Genie, solange ihr seinem Niveau nicht gewachsen seid.
Lernt, arbeitet, öffnet eure Kräfte für die Arbeit.
Geht voran.
Arbeitet unermüdlich.
Dies ist die einzige Möglichkeit, Magie und Gabe, die der Schöpfer in jeden Menschen gelegt hat, zu entdecken.
Einen anderen Weg gibt es nicht.
Ein Blick auf euer Spiegelbild im Wasser kann euch eure Fähigkeiten nicht zeigen. Es ist eine Beleidigung eures zukünftigen Lebens, wenn ihr faul seid und meinen Anweisungen nicht folgt. Denkt daran, ihr Schöpfungen Gottes: Menschen, die viel Zeit haben, können im Leben wenig erreichen.
Faulheit ist das Todesurteil jedes Genies.
Deshalb werdet ihr jeden Tag bis zur Erschöpfung und ohne Wochenende arbeiten. Ich möchte, dass der Name eines jeden von euch in der Geschichte von Florenz haften bleibt.
In der Geschichte unseres schönen Italien.
Der Herr hat mir noch ein wenig Lebenszeit geschenkt. Aber auch nachdem ich gegangen bin, möchte ich stolz auf jeden meiner Schüler sein.
Und jetzt an die Arbeit!
Ihr habt mehr als genug Zeit.
Bis zum Sonnenuntergang ist es noch lang.“
Der eisgraue Bildhauer drehte sich um und verließ die Kapelle. Kurz darauf hörte man das leichte Knarren und den Klang des schwer ins Schloss fallenden Kirchentors.
Nachdem der Lehrer weg war, nahmen die Jugendlichen die mitgebrachten Hocker und richteten sich vor den ausgewählten Fresken ein. Alle wichtigen Materialien lagen auf einem großen flachen Teller, von dem sich jeder nehmen konnte, was er brauchte. Einige der Schüler setzten sich direkt hin, andere standen, den Fuß auf eine Kniebank gestellt, und legten ihr Album auf dem Knie ab.
Alle begannen zu arbeiten, nur Torrigiano nicht.
Er war heute wie vom Teufel besessen ...
Der schlanke, gutaussehende junge Mann unterschied sich von den anderen vor allem durch seine Arroganz. Er war ungeduldig und wurde schnell aggressiv. Torrigiano hatte seine Kameraden in eine gewisse Rangordnung eingeteilt: Jene, die schwächer waren als er, die schwierige Aufgaben schlechter verstanden und ihn nicht an Geschicklichkeit übertrafen, verteidigte er, sofern ihm ihr Schutz vorteilhaft erschien. Diejenigen aber, deren Beharrlichkeit und Fleiß er wahrnahm, versuchte er bei jeder Gelegenheit mit üblen Worten zu treffen. Wer versuchte, ihm zu widersprechen oder sich selbst zu schützen, wurde zur Seite gestoßen.
Indes konnte Torrigiano auch ausdauernd und geduldig arbeiten. Der zukünftige Bildhauer bevorzugte zwei Lieblingsmaterialien: Stein und Lehm. Seine geschickten Hände formten die schönsten Figuren und Kompositionen, die oft das Lob des Lehrers erhielten. Jedes anerkennende Wort ließ in dem jungen Schüler ein großes Gefühl von Stolz entstehen, wurden aber seine Mitstreiter gelobt, reagierte er sehr empfindlich und es schmerzte ihn sehr. Er war ein komplexer, aber recht berechenbarer Charakter.
Die Missgunst machte es sich bei ihm gemütlich.
Von der ersten Minute an, in welcher der fünfzehnjährige Michelangelo in die kleine Gruppe der zukünftigen Bildhauer gekommen war, hatte Torrigiano ihn beobachtet, um einordnen zu können, welchen Platz er unter seinen Kameraden einnahm. Schon nach kurzer Zeit beschlich ein unangenehmer Verdacht seine Seele: der neue Schüler könnte sein Konkurrent werden.
Ein heftiger Hass umfing Torrigiano mit inniger Umarmung.
Jede Kleinigkeit an Michelangelo ärgerte ihn:
Er mochte seine kleine Statur nicht.
Seinen zerbrechlichen Körperbau.
Außerdem stieß ihm die Unbeirrbarkeit des Neulings bei der Arbeit auf:
Michelangelos konzentrierte Aufmerksamkeit im Unterricht zwang Torrigiano, die Zähne zusammenzubeißen, um nicht laut schreien zu müssen.
Seine Strebsamkeit bei der Durchführung von Aufgaben bereitete ihm Herzschmerzen.
Kopfschmerzen überfielen ihn, wenn der Neuling, anstatt zu schlafen, Spaß zu haben oder mit Freunden an den wenigen freien Tagen Wein zu trinken, heimlich zu Hause malte, auch nachts.
Aber vor allem verletzte Torrigiano, dass Michelangelo, so oft er ihn auch anrempelte, nie Angst zeigte und die Grobheit nie mit gleicher Unhöflichkeit erwiderte. Und nicht oft, aber hin und wieder wagte es der neue Schüler sogar, die Arbeiten der großen Meister, welche die Gruppe nachzumachen versuchte, zu kritisieren.
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