1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Der Bruder nickte und Perlite setzte fort: „Nun, nach deiner Entscheidung … Hast du die Absicht, deine Tochter wiederzusehen?“
„Aber ja. Ab heute dürft ihr beide meine Hälfte des Hauses ohne weiteres betreten. Wir werden auch unsere Tradition des täglichen Zusammenseins beim Essen und am Sonntagabend fortsetzen. So war es bei Damiana, und so bleibt es auch bei uns. Im Sommer werden wir alle drei einen wunderschönen Urlaub auf Ischia verbringen. Gott sei Dank steht meine Villa dort direkt am Strand. Mein Mädchen kann dort so viel schwimmen, wie sie möchte. Ich weiß genau, dass sie unseren großen Swimmingpool hier in Palermo nicht besonders mag.
Aber Perlite, bitte vergiss nicht das Wichtigste. Juliane darf auf keinen Fall erfahren, dass wir, genauer gesagt, ich, ihre Zukunft schon geplant haben. Wir müssen dem Kind die Wahl seines zukünftigen Berufs sehr vorsichtig beibringen. Sie soll sicher sein, dass ihre Wahl ohne unsere Beteiligung zustande gekommen ist.
Es wird nur ihre eigene Entscheidung gewesen sein.
Kinder mögen nicht, wenn die Eltern Pläne für sie schmieden, und erwachsene Kinder verzeihen einem die Einmischung in ihr Leben nicht. Die Kleinen besitzen noch keine Erfahrung. Sie glauben, sie wissen alles besser als ihre Eltern, auch wenn das nicht zutrifft ...
Wenn du noch Fragen oder Schwierigkeiten haben solltest – wende dich sofort an mich. Wir sind eine Familie und alle Probleme müssen wir gemeinsam lösen.“
Erneut führte Perlite ihr Taschentuch zu den Augen, doch dieses Mal füllten sie sich mit Tränen der Freude. „Lieber Alessandro, ich danke dir für dein Vertrauen. Oh, wie glücklich ich bin! Du hast alles so bemerkenswert und schön überlegt – ich habe immer gewusst, dass du der Klügste von ganz Sizilien bist! Die heilige Rosalia möge dich segnen!“
„Nun gut, es ist genug, Schwester!“, bedeutete der Don Perlite zu schweigen, um zu verbergen, wie nahe ihm ihre Worte gingen. „Wir haben alles besprochen. Aber jetzt schau doch bitte kurz in der Küche vorbei und sage Beppo, er möge heute das Abendessen für drei Personen vorbereiten. Und ja, serviert wird auf der Terrasse vor dem kleinen Esszimmer. Heute ist ein wunderschöner Tag, da wollen wir nicht sündigen und draußen speisen.
Und, Perlite, noch etwas …
Bereite das Mädchen ab heute auf unser tägliches Treffen vor. Ich hoffe, die Nachricht über meine Genesung macht sie glücklich. Hast du Juliane oft genug meine ‚ansteckende Krankheit‘ als Grund für unsere Trennung in Erinnerung gebracht?“
Der Don schaute Perlite mit einem kaum erkennbaren Lächeln an und stand auf. Perlite erwiderte das Lächeln.
„Natürlich habe ich ihr alles so erzählt, wie du es gewollt hast. Bis heute Abend, Alessandro“, antwortete sie und erhob sich ebenfalls. „Du hast die einzig richtige Entscheidung getroffen. Gott sei Dank hat diese auch meine Wünsche voll und ganz erfüllt. Ich bin sicher, die Nachricht über deine Genesung wird Juliane sehr glücklich machen. Du hast deiner Tochter sehr gefehlt.“
Perlite näherte sich dem stattlichen Mann, legte ihre Hände auf seine Schultern und küsste ihn auf beide Wangen. Trotz ihres großen Respekts vor seinen Geschäften und seinem Reichtum war Don Massey für Perlite nicht nur das ehrenwerte Oberhaupt der Familie, sondern eben auch ihr kleiner, geliebter Bruder.
Frankfurt am Main, Deutschland
Sascha litt unerträglich. Seine physischen und seelischen Schmerzen schienen untrennbar miteinander verbunden. Sie waren so eng verflochten, dass es ihm schwerfiel, den einen Schmerz vom anderen zu unterscheiden.
„Wie ist es dazu gekommen?“, kehrten die Gedanken an seine schweren Verletzungen hunderte, tausende Male am Tag wieder.
„Warum ausgerechnet ich?
Habe ich es verdient, in meinen jungen Jahren im Rollstuhl zu sitzen?
Was habe ich in meinem Leben Falsches oder Unrechtes getan?
Warum? Wer bestraft mich?
Für welche Tat?
W-A-R-U-M?“
Er fand keine Antwort auf eine einzige seiner Fragen.
Es ist nicht einfach, in einem fremden Land in einem Krankenbett zu liegen. Aber noch schwieriger ist es, seinen Zustand vor den Angehörigen zu verbergen.
Für die Familie zu lügen.
Vor der Adoptivmutter die Wahrheit zu verstecken.
Und so stellte sich heraus, dass sie wohl vermochte, sogar über die große Distanz hinweg den Schmerz ihres Sohnes zu fühlen, den sie seit seinem achten Lebensjahr großgezogen hatte.
„Hallo, mein Söhnchen, du hast uns wohl vergessen. Du schreibst nicht, kommst nicht zurück. Ich hatte ein komisches Gefühl, ich musste dich unbedingt anrufen, aber habe dich nicht erreicht … Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Sei nicht so besorgt, Mama. Bei mir alles ist gut ...“
„Und deine Stimme? Warum hast du so eine seltsame Stimme? Ich höre doch, dass dir die Luft fehlt.“
„Meine Stimme ist ganz normal. Ich habe etwas hastig ein Bier aus dem Kühlschrank getrunken, jetzt klingt meine Stimme vielleicht etwas belegt.“
„Sascha, deine Stimme klingt nicht erkältet, sondern traurig und krank … Aber nun gut, wenn du nicht darüber sprechen möchtest, dann eben nicht. Aber wann kommst du nach Hause? Ich hoffe doch, dass wir uns an Neujahr sehen?“
„Neujahr?“ Saschas Stimme klang brüchig und er schwieg kurz. „Ich werde es versuchen, aber versprechen kann ich es nicht.“
„Versuch es, bitte, mein Liebling.“ Die Stimme der Mutter wurde traurig. „In letzter Zeit bin ich oft krank, die Kräfte verlassen mich. Wir sehen uns so selten. Komm bitte nach Hause, ich möchte dich so gerne sehen.
Ich möchte dich in meiner Nähe haben.“
Die Mutter konnte die Tränen nicht sehen, die ihrem Sohn nach diesen Worten über die Wangen liefen.
Er hatte Mitleid mit seiner Mutter.
Er wollte nicht mehr lügen.
Doch vor allem beklagte er sein unglückliches Schicksal und das Urteil der Ärzte. Er wollte, er konnte niemandem von seiner Behinderung erzählen. Sascha schluckte schwer gegen den Kloß an, der in seinem Hals festzustecken schien, trocknete mit den Kanten des Bettbezugs sein Gesicht und hustete einige Male in der Hoffnung, er könne auf diese Weise wieder Herr seiner Stimme werden.
„Mama, es klingelt an der Tür! Wir müssen schlussmachen. Ich werde jetzt öfter anrufen, versprochen. Grüße die ganze Familie von mir. Bleibe gesund und … ich liebe dich, Mama.“
Sascha legte auf, ließ sich zurück in die Kissen fallen und schloss die Augen. Fast im selben Moment überfielen ihn blitzartig Gedanken an die Ereignisse der letzten Jahre und malten mit hellen Farben Bilder vor seinem inneren Auge.
Warum kamen sie ausgerechnet jetzt?
Was hatte sein Unfall mit der Eröffnung der „Akademie der Genies“ zu tun?
Konnte es eine solche Verbindung überhaupt geben?
Fragen wie diese hatte er sich früher nicht gestellt. Jetzt aber drängten sie sich ihm auf, und nach einer Weile verstand er, dass sein Unterbewusstes wohl genau in dieser Richtung die Antwort darauf suchte, warum der Unfall überhaupt geschehen war, warum es ausgerechnet ihn getroffen hatte.
Er erinnerte sich, wie er seinen Adoptivvater Anton Glebow nie hatte „Papa“ nennen können und immer nur „Anton“ gesagt hatte. Er erinnerte sich an die zärtlichen Hände seiner Mutter Larissa – die einzige Mutter, an die er sich zu erinnern vermochte, war seine leibliche Mutter doch früh gestorben und hatte er sie längst vergessen.
In seinem Kopf erschienen Bilder von den Klassenkameraden, dem Abschlussball in der Schule, von den Studienjahren in der Universität, vom Unterricht in der Malerei und andere angenehme Bilder aus der Vergangenheit. Diese Erinnerungen stellten zwar keinen Glückszustand her, aber brachten die Ruhe und die Stille der Freude in Saschas aufgewühltes Gemüt. Allerdings nur, bis er an seinen Traum dachte, eine Niederlassung der Akademie der Genies im Ausland zu eröffnen. Hier bäumten sich seine Erinnerungen auf wie ein wütendes Pferd. Dieses Pferd schlug mit seinen Hufen schmerzhaft gegen die dünnen Wände der Herzklappen, gelben, giftigen, spritzenden Schaum vorm Maul, der auf der Haut des Kranken als ein stark duftender Schweiß zurückzubleiben schien.
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