Die Leute mit ihren Ganzkörperkondomen gingen in den Turm hinein, gefolgt von Keller. Wahrscheinlich mussten sie dort drinnen Platzkarten verlosen.
Ich saß auf einem Stapel Langholz und gab mich philosophischen Gedanken hin. Das mache ich seit Neuestem immer, wenn mir langweilig ist. Und wie immer führten sie zu keinem greifbaren Ergebnis.
Irgendwann – ich war gerade bei der Vergänglichkeit des Daseins angelangt und wollte zum Sinn desselben weitergehen – kam Keller auf mich zugestapft.
Es kam, was kommen musste. Das Übliche eben.
»Wieder mal«, knurrte er mich an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Genau besehen habe nicht ich die Leiche gefunden, sondern Isabel. Sie war zwei Stufen vor mir.«
»Dieses rote Gift? Diese Immobilientante, die immer hinter dir her ist?«
»Ist sie nicht.«
»Ist sie doch.«
»War sie vielleicht mal.«
»Immer noch. Manchmal bist du mit Blindheit geschlagen, Dillinger. Wie bei deiner Anwältin. Die hättest du nicht gehen lassen dürfen. Die hat dir gut getan.«
»Aber ich ihr wohl nicht.«
»Weil du ein Idiot bist.«
»Sagt der Experte in Herzensangelegenheiten.«
»Lenk nicht ab. Nele war sympathisch, intelligent und außerdem verdammt attraktiv.«
»Na und? Es hat eben nicht sollen sein. Sie ist in Berlin, ich bin hier.«
»Eine Fernbeziehung ist doch heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr.«
»Hat halt nicht funktioniert bei uns.«
»Weil du zu unflexibel bist, Dillinger. Du denkst immer, dass sich alles um dich drehen muss.«
»Schön, dass du mit mir mein verkorkstes Liebesleben diskutieren willst, aber hast du nicht was zu arbeiten?«
»Das machen die Jungs schon.«
»Sexist! Da war mindestens eine Frau dabei.«
»Die Adelheid, ja. Niedliches Ding. Und ledig. Soll ich euch bekannt machen?«
»Weißt du, was du mich kannst? Aber kreuzweise!«
Keller grinste. »Also, was hattet ihr in diesem Turm zu suchen?«
Ich erzählte. Von unserem Picknick. Dem Spaziergang. Der Tür, die offen stand. Vom Bauer Buchauer sagte ich nichts, das hatte mit dieser Sache ja nichts zu tun.
»Kennst du ihn?« Aus seiner Kopfbewegung war eindeutig zu entnehmen, wen er meinte.
»Er kommt mir vage bekannt vor. Soweit man das noch erkennen kann. Kann sein, dass ich ihn irgendwo mal gesehen habe. Name weiß ich nicht.«
»Aber ich. Dr. Gustav Rautenberg. Ist das der, den du meinst?«
»Keine Ahnung.«
»Wie kommt es dann, dass er deine Visitenkarte bei sich trug?«
»Ich verteile die Dinger großzügig.«
»Warum?«
»Mensch, Keller! Du wirst zu deinen Kunden gerufen, und die warten auch ganz geduldig, bis du kommst. Ich muss Werbung machen für mich.«
»Bringt’s was?«
»Danke der Nachfrage, ich ertrinke in Arbeit.«
»Diese Windräder sind ein gutes Konjunkturprogramm, was? Hast du die drei hier auch versichert?«
»Möglich. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es sind so viele, ich verliere allmählich den Überblick. Was wisst ihr sonst noch über diesen Herrn Rautenberg?«
»Sechsundfünfzig Jahre alt, wohnt drüben in Ilshofen. Liegt seit einigen Tagen hier, vielleicht seit drei. Genaueres nach der Obduktion, du kennst das ja.«
»Deshalb müffelt er so. Kein Wunder bei dieser Sommerhitze.«
Keller zeigte mir den Ausweis. Dr. Gustav Rautenberg sah, selbst auf dem biometrischen Passfoto, nicht schlecht aus, jedenfalls besser als in seinem jetzigen Zustand. So der Typ George Clooney für Arme.
Ich zog mein Handy hervor und googelte. Wenn man schon so ein Wisch-und-weg-Ding hat. Ich wurde schnell fündig.
»Da schau her«, sagte ich. »Dein Kunde gehörte zu den entschiedenen Windkraftgegnern. Er war oft in der Zeitung. Deshalb kam er mir so bekannt vor.«
»Wunderbar. Dann habe ich ja auch schon meinen ersten Tatverdächtigen.«
»Wen?«
»Dich natürlich. Er wollte dir dein Geschäft vermiesen. Du machst doch auch Geschäfte mit den Windrädern, soweit ich weiß.«
»Und nicht zu knapp. Wie viele andere auch. Ist aber kein hinreichendes Motiv. Nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Keller, die Dinger stehen, daran ist nicht mehr zu rütteln. Die Kämpfe sind vorbei. Du musst woanders suchen.«
»Nett, dass du uns auch noch Arbeit übrig lässt.« Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an.
Ich war verblüfft. »Ich dachte, du willst dir das Rauchen abgewöhnen?«
»Habe ich auch. Erfolgreich. Zum ungefähr fünfundzwanzigsten Mal. Jetzt habe ich eine Erholungspause verdient. Bis zum nächsten Mal.«
»Widerlich, diese Sucht. Wie ein Kleinkind, das seinen Schnuller braucht. Bist du fertig hier?«
»Fürs Erste ja.«
»Dann kannst du mich mitnehmen.«
»Bin ich dein Taxi?«, blaffte er mich an.
»Heute schon. Isabel hat meinen Wagen.«
»Wäre ich nur mit nach Aalen oder Waiblingen gegangen, dann wärst wenigstens du mir erspart geblieben.«
»Das Leben ist ungerecht, ich weiß.«
»Dann komm halt mit. Ich habe allerdings noch den unangenehmsten Teil des Abends zu erledigen.«
»Warum delegierst du nicht die unangenehmen Aufgaben?«
»An wen denn? Ich habe doch niemanden mehr, die haben sie mir alle genommen.«
»Dein Assistent?«
»Nissen? Den haben sie jetzt endgültig nach Aalen versetzt. Der ist ganz schön angefressen. Hat sich gerade hier ein Haus gekauft und darf jeden Tag pendeln.«
»Mein Glück. Ich wollte schon immer sehen, wie ein Profi das macht. Diese Kondolenzbesuche. Hast du einen Standardtext oder improvisierst du jedes Mal?«
Keller knurrte nur.
Ich schickte Isabel eine SMS. Jetzt durfte sie wenigstens mit meinem Porsche nach Hause fahren.
***
Wie nennt man ein Neubaugebiet, das schon einige Jahre auf den Hausdächern hat? Altbau war es jedenfalls noch nicht. Ilshofen war in den vergangenen Jahren mächtig gewachsen, und vor dem nicht mehr ganz so neuen Neubaugebiet fraßen sich schon die Bagger in die Wiesen und Äcker für das nun wirklich ganz neue Neubaugebiet.
Mit dem Ausblick auf die Natur war es jedenfalls vorbei, und einen Naturschützer wie Gustav Rautenberg hatte das bestimmt geschmerzt. Aber die Sorgen hatte er jetzt sowieso nicht mehr.
Der Abend war noch immer lau, obwohl es mittlerweile auf zehn Uhr zuging, und über der Siedlung hing der penetrante Geruch von Gegrilltem. Ich musste schlucken. Seit unserem romantischen Picknick war es schon eine Weile her.
An dem kleinen Häuschen von Rautenberg hatte sich kein visionärer Architekt ausgetobt, es war austauschbar wie alle anderen Häuser hier. Der Garten wirkte gepflegt. Kein Hund bellte, als wir klingelten, niemand machte auf, das Haus blieb dunkel. Dafür regte sich im Nachbargarten etwas.
»Wollen Sie zum Rautenberg?«, fragte eine weibliche Stimme hinter der Hecke.
Zu der Stimme gehörte eine kleine Frau mittleren Alters in körperbetontem Freizeitdress. Es quoll aus allen Nähten. Ihrer leicht verwischten Aussprache nach zu urteilen, hatte das Grillen viel Durst gemacht.
»Den habe ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen«, fuhr die Frau ungefragt fort.
»Seit wann nicht mehr?«, fragte ich und handelte mir einen strafenden Blick von Keller ein. Okay, es war seine Show.
»Bestimmt seit drei Tagen oder so. Schauen Sie, diese ganze Werbung passt gar nicht mehr in den Kasten. Sonst sagt er’s ja immer, wenn er wegfährt, aber diesmal …«
Für einen Einbrecher wäre das eine interessante Information gewesen, aber der hätte wahrscheinlich nicht geklingelt.
»Er ist wohl öfter weg?«, fragte ich und ignorierte das Knurren neben mir.
»Freilich. Immer mal wieder für ein paar Tage.«
»Gibt es auch eine Frau Rautenberg?«
Kein Knurren, kein Boxhieb in die Nieren, Keller hatte aufgegeben.
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