Der Gedanke lässt mich grinsen.
Kaum, dass ich auf speichern gedrückt habe, öffnet sich auch das Chatfenster und Henry ist wieder da. Er lobt mein Foto und fragt mich wie mein Tag war und nachdem ich ihm davon erzählt habe, frage ich nach seinem, erhalte jedoch nur eine recht knappe Antwort. Dieser Henry hat schon etwas Seltsames an sich. Trotzdem ist er der Einzige, der mich bisher kontaktiert hat.
Wir chatten den ganzen Abend und am Ende habe ich das Gefühl, ihm meine ganze, klägliche Lebensgeschichte erzählt zu haben, aber kaum etwas von ihm zu wissen. Sogar von René habe ich ihm erzählt und er reagierte angemessen sauer auf den Typen, dem ich seit einer halben Ewigkeit nachhänge, der aber nichts davon bemerkt.
Als ich schließlich im Bett liege, ist mein letzter Gedanke bevor ich einschlafe, dass auch ich allmählich Wut auf René empfinde. Wut ist besser. Leichter zu ertragen, als diese elende, unerwiderte Sehnsucht.
Von Selbstvertrauen und mütterlichen Müttern
Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Zuerst denke ich, dass es sich dabei um meinen Wecker handelt, doch dann fällt mir ein, es ist Samstag und eine ungerade Woche. Also muss ich nicht arbeiten. Ich taste nach dem vibrierenden Gerät, kneife die Augen vor dem hellen Displayleuchten zusammen. Erst einen Moment später schaffe ich es, den Namen zu erkennen, der mir angezeigt wird. René ruft mich an. Was will er, mitten in der Nacht?
"Hallo?" Verdammt klinge ich verschlafen. Mein Hals ist trocken und meine Stimme hört sich an, als hätte ich ein Reibholz verschluckt.
"Gott sei Dank, du bist wach." Er nuschelt. Ist er betrunken?
"Kannst du runterkommen?"
"Was?" Vielleicht träume ich.
"Ob du runter kommen kannst." Er klingt leicht ungeduldig.
"Was, aber..."
"Oh, nun komm schon, Greta."
"Bist du hier?"
"Ja, was denkst du denn?"
Ich seufze und schüttle nur den Kopf über ihn.
"Warte..."
"Du bist die Beste", sagt er und legt auf. Ich taumle zu meinem Kleiderschrank und ziehe eine dicke Jacke mit Innenfutter heraus, während Akina um meine Beine streicht, doch ich ignoriere sie, fahre aber kurz mit den Fingerspitzen über Lolas Kopf, die am Fußende meines Bettes geschlafen hat. Ich gehe ins Bad, sehe mein Spiegelbild und seufze erneut. Ausgerechnet so muss ich René unter die Augen treten? Ich richte schnell das Schlimmste, spüle mir den Mund aus und nehme mir im Flur zwei Tic Tacs, bevor ich in meine Chucks schlüpfe und mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand nach unten gehe. Schon als ich die Haustür öffne, kriecht mir die Kälte unter die Jogginghose. Innerhalb der letzten paar Wochen hat sich das Wetter vom Herbst verabschiedet und dem Winter den Vorzug gegeben.
"Greta, endlich."
René tritt aus dem Schatten in das Licht der Flurlampe, die den Vorgarten erhellt. Er kommt auf mich zu und ich weiß, dass die Wut, die ich heute Abend auf ihn empfunden habe, nur ein Anfang war. Ein sehr schwacher Anfang, der sofort von diesen nervigen Gefühlen davongeschwemmt wird, als er mich umarmt. Ich nehme seinen vertrauten, herben Duft wahr, seine breiten Schultern und würde mich am liebsten nie wieder aus dieser Umarmung lösen, doch das übernimmt er für mich.
"Komm, lass uns spazieren gehen!", sagt er und dabei fällt mir auf, dass sein Atem nach Alkohol riecht. Er ist also tatsächlich betrunken. Aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe.
"Spazieren gehen? René, es ist..." Ich will auf mein Handy spähen, um ihm vorzuhalten, wie spät es ist, doch offenbar habe ich es oben liegen gelassen.
"Drei Uhr morgens, ich weiß. Aber du musst doch morgen nicht arbeiten, oder?"
"Nein..."
"Na, dann lass uns spazieren gehen."
"Können wir nicht lieber rein gehen? Es ist sau kalt."
René seufzt, dann fasst er mich bei den Schultern.
"Greta... Ich sage dir das nur ungern, weil ich nicht will, dass du mich für einen noch größeren Penner hältst, als du es sowieso schon tust..."
"Ich halte dich nicht für einen..."
"Lass mich ausreden", würgt er mich ab. "Ich bin betrunken, Greta. Und du bist die einzige meiner Freundinnen, mit der ich keinen Sex hatte. Und ich will dass das so bleibt, klar?"
Augenblicklich schießt mir die Röte ins Gesicht und das Verlangen in alle Glieder. Allein die Vorstellung...
"Also komm, lass uns spazieren gehen."
Aber ich will doch genau das!
Trotzdem sage ich nichts mehr, folge seiner Bitte und gehe neben ihm her durch die dunklen Straßen von Kassel-Wilhelmshöhe. Wir schweigen beide und ich frage mich, warum zum Henker er mitten in der Nacht vor meiner Haustür aufkreuzt, wenn nicht Sex der Grund ist. Aber vielleicht sieht er wirklich keine solche Frau in mir. Keine, mit der er eine schnelle Nummer schieben kann. Dumm nur, dass ich dazu jederzeit bereit wäre. Ich würde alles nehmen, was er mir anbietet.
Erschrocken über meine eigenen Gedanken vergrabe ich die Hände tiefer in den Taschen.
So bist du doch eigentlich gar nicht... Du bist keine Frau, die einfach nur Sex mit einem Kerl haben möchte...
"Danke...", murmelt René. Wir erreichen gerade den Bergpark, folgen den geschotterten Wegen.
"Wofür?", frage ich irritiert.
Er lacht leise.
"Ich glaube, du bist die Einzige, zu der ich nachts gehen kann, ohne dass sie voll an die Decke geht."
Ich schnaube und habe keine Lust, näher auf dieses Thema einzugehen. Wenn er fragt, warum das bei mir so ist... Ich weiß nicht, ob ich ihn anlügen könnte.
"Ich habe eine kennengelernt..."
Fast bleibe ich stehen, doch ich kann mich gerade noch zusammenreißen. Er hat was?
"Schon wieder?", frage ich betont beiläufig, tue so, als würde ich den veränderten Klang in seiner Stimme nicht wahrnehmen.
"Ne, ich meine richtig. Also sie ist keine Bitch oder so." Wie immer... René kann sich wirklich nicht besonders gut ausdrücken. Oder ist er verlegen?
"Wie heißt sie?", frage ich mit trockener Kehle.
"Jessica."
Ich schweige, kann nicht fragen. Nicht spielen, dass ich mich für ihn freue. Aber ich muss. Und wollte ich ihn nicht so oder so abschreiben? Was macht es also für einen Unterschied, wenn er sich in eine andere verliebt? Im Gegenteil, vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass er mir genug vertraut, um mir davon zu erzählen.
"Seid ihr zusammen?", will ich wissen.
"Noch nicht."
"Aber?"
"Ich habe sie doch gerade erst kennengelernt."
Ich grinse ihn an, was mich all meine Kraft kostet.
"Dann scheint es ja wirklich ernst zu sein, wenn sogar du auf die Bremse drückst."
Auch er grinst entschuldigend.
"Ich weiß, dass ich ein ziemliches Arschloch sein kann."
"Ja, aber im Grunde ist dir das egal." Das sagt er mir so oft, dass ich seine Worte mitsprechen könnte.
"Genau. Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe."
Okay, jetzt kommen wir also dem Grund für seinen nächtlichen Besuch näher. Aber wobei sollte ich ihm schon helfen können?
"Es gibt da nämlich ein kleines Problem..."
"Das da wäre?"
"Jessica ist die beste Freundin von Ellie."
"Und wer bitte schön ist jetzt schon wieder Ellie?" Glaubt er allen Ernstes, dass ich bei seinen Frauengeschichten noch durchblicke oder mir irgendwelche Namen merken könnte?
"Na, die, der ich gesagt habe, du wärst meine Freundin."
"Oh", gebe ich ziemlich geistreich von mir und allmählich dämmert mir, warum er mir von Jessica erzählt.
"Und jetzt denkt die, auf die du wirklich stehst, du hättest eine Freundin?"
"Genau."
"Und wo ist das Problem? Mach doch einfach Schluss mit mir", sage ich und klinge dabei bitterer als beabsichtigt. Glücklicherweise ist er zu betrunken um solche Feinheiten aus meinem Tonfall herauszuhören.
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