Dennoch – ich empfand auch eine Art Zufriedenheit, vielleicht Erfüllung.
Im Frühling ist dieses Land besonders schön. Der Schnee begann zu schmelzen und ließ die kleinen sauberen Bäche anschwellen. Die oberen Bergpässe wurden allmählich wieder passierbar. Man fühlte sich fortan nicht mehr so stark isoliert wie in den Wintermonaten. Im Winter ist der Nordkaukasus wie eine unendlich breite Sackgasse. Man kommt in Richtung Süden irgend wann nicht mehr weiter. Unpassierbar ist dann der Kamm oder auch der Übergang zum georgischen Pankisital. Wenn die Jagdbomber oder Kampfhubschrauber auf die Menschen zufliegen, gibt es ohnehin keine Möglichkeit des Ausweichens oder Entkommens. Doch im Winter ist da noch das bedrückende Gefühl des Eingesperrtseins, denn hinter einem steht die unüberwindbare Wand des Großen Kaukasus. Deshalb ist mit dem Tauwetter eine Art Freiheitsgefühl verknüpft.
Die schlichten, aber sauberen tschetschenischen Bergdörfer fügten sich gut in die bezaubernde Landschaft ein. Ihre Attraktivität wurde durch die Berge aufgewertet. Um so erschreckender waren die Spuren des Krieges. Seit Wochen wurden Bombenangriffe geflogen und Wohnhäuser zerstört. Die Leidtragenden waren ausschließlich Zivilisten – auch Alte, Frauen und Kinder. Die meisten der jungen Männer hatten sich den Kämpfern angeschlossen und die Dörfer verlassen.
Neben der Liebe zu dieser Bergwelt sind es aber vor allem die Menschen, die mich fesseln. Man achtet mich, weil oder obwohl ich aus dem fernen Deutschland hier her kam. Für die Großfamilie war ich der Gast, das heißt, ich stehe im Mittelpunkt, vieles dreht sich um mich und man respektierte mich. Immer wieder betonen die Männer der Asujews, sie seien für meine Sicherheit verantwortlich. Mir war klar, dass dies keine leeren Worte waren. Nie werde ich die Situation vergessen, in der Magomed, einer der Söhne des alten Selemchan sich mit seinem Körper auf mich warf, um mich vor Splittern zu schützen, als unser Fahrzeug unter Beschuss geriet.
An den Abenden fanden sich alle noch zu Hause befindlichen Männer der Großfamilie Asujew gewöhnlich zusammen. In der großen Wohnküche wurden die Nachrichten des russischen Fernsehsenders ORT, das Allgemeine Russische Fernsehen verfolgt. Dann folgten gewöhnlich lang anhaltende Diskussionen. Man trank unendlich viel Tee. Alkohol ist tabu. Mit diesem Produkt der russischen Unkultur und des Unglaubens wolle man nichts zu tun haben, urteilen die Männer. Magomed erklärt: „Was sollen wir tun? Die Russen wollen uns mit ihrem feigen Luftterror aus unseren Dörfern vertreiben. Doch wir werden widerstehen und die Gegend nicht verlassen. Die Russen wollen unser Land erobern und unsere Reichtümer ausbeuten. Dazu brauchen sie uns Tschetschenen nicht. Wir sollen getötet oder vertrieben werden.“ Und Selemchan ergänzte: „Wir werden standhaft bleiben, so wie unsere Ahnen immer fremden Eroberern widerstanden. Selbst wenn die Ungläubigen uns in alle Regionen ihres riesigen Landes vertreiben sollten, werden wir zusammen halten und unsere Familien werden nicht zerfallen.“ Dann forderte er mich auf: „Sag es deiner Regierung: Die Russen sollen ihr großes Land aufbauen statt unseres zu zerstören! Sie sollen ihre Soldaten zur Aufbauarbeit in die Dörfer des weiten Russland schicken, damit es dort so ordentlich wird, wie in unseren Dörfern“. Und Magomed wurde leidenschaftlich: „Allah ist groß! Und der Allmächtige ist auf unserer Seite!“ Dann wich er vom Russischen ins Tschetschenische aus. Ich verstand nur noch Wortfetzen wie „Arier“ und „Hitler“. Alle hatten inzwischen begriffen, dass ich diese „Argumentation“ hasste.
Die Frauen der Familie versammelten sich nach erledigter Arbeit in einem Nebenzimmer, jederzeit bereit, die Männer zu bedienen. In ungewöhnlicher Weise werden die Männer umsorgt und ich als Gast in besonderem Maße. Mir wurde untersagt, an den Abenden meine mit Schlamm total verschmierten Schuhe selbst zu reinigen, denn dies sei Frauenarbeit und es gehöre zum Service gegenüber dem Gast.
Die Asujews, aber auch Nachbarfamilien verfügten über gute politische und militärische Kenntnisse. Sie waren dank des sowjetischen Bildungssystems erzogen, selbständig zu urteilen. Sie verfügten aber auch innerhalb des Clans über ein Subordinationsgefühl gegenüber dem Älteren, das uns Mitteleuropäern fremd ist.
In den Nächten sollte man Haus und Hof und damit den Schutz der Familie nicht verlassen. Doch es ist Vollmond und dies bedeutet in der Bergwelt eine besondere Faszination zu erleben. Da nimmt man schon mal ein Defizit an Sicherheit in Kauf, um sich den Reizen der Natur hinzugeben. Vollmond im Kaukasus – ein unvergessliches Ereignis, ja Erlebnis.
Die Schönheiten der Natur stehen in einem kaum erfassbaren Kontrast zu den Unmenschlichkeiten des Alltages in diesem nicht erklärten und schwer erklärbaren Krieg. Der Kampf erfasste immer breitere Schichten der tschetschenischen Gesellschaft und drohte zunehmend zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren. Auf tschetschenischer Seite verwischen die Grenzen zwischen Rebellen, Aufständischen und den unbeteiligten Menschen. Das machte es naturgemäß für die russischen Besatzer schwer, zwischen ungesetzlich bewaffneten Kriminellen und der eigentlichen Bevölkerung zu unterscheiden.
Den Militärs, auch den in Tschetschenien verhassten Vertragssoldaten, den „Kontrakniki“ kann man nicht die gesamte Schuld an dem Leiden im Kriegsgebiet zuschreiben. Sie haben Befehle und sie handeln im Auftrag der Politiker. Will sagen, dass damit die gesamte Schuld der Politik zuzuschreiben ist. Magomed behauptete, die Kontraktniki seien in russischen Strafvollzugsanstalten geworbene Gewaltverbrecher, denen Haftverschonung versprochen wurde, wenn sie sich in Tschetschenien bewähren würden. Und er behauptete weiter, dass viele willkürlich in seiner Heimat inhaftierte Landsleute ohne Gerichtsverfahren unter die Kriminellen in den russischen Gefängnissen gemischt würden.
Zum typischen Bild in tschetschenischen Dörfern gehören Frauen, die mit bis zur Präzision ausgebauten Karren Wasser holen. Manchmal schleppen sie auch Wassereimer mit einem Schultertragegestell. Damit verbringen sie oftmals den halben Tag.
In Grosny versorgen sich die Leute mit Trinkwasser in den Kellern der zerbombten Häuser, die mit Müll zugeschüttet waren, aus leckenden Wasserleitungen.
Die Stromversorgung lag am Boden. Unsere OSZE - Gruppe hatte, um die Sat - Anlage, die Computer- und Fernmeldeeinrichtung betreiben zu können, ein Stromaggregat hinter dem Haus.
Die Notdurft wurde in einer Bretterbude entrichtet und alles fiel in eine Grube. Im Sommer war es da vor Ungeziefer und Fliegen kaum auszuhalten.
Grosny war völlig zerschossen und zerbombt. Ich möchte den Straßenzug sehen, dessen Kanalisation funktioniert. Die Abwasserrohre sind bereits innerhalb der Häuser verstopft.
Die Menschen, die in den Ruinen gar keine Existenzmöglichkeit mehr finden konnten, wurden evakuiert. Sie wurden nach Dagestan oder Inguschetien verbracht. Die meisten fanden dort Asyl bei Verwandten, andere mussten in den Flüchtlingslagern unterkommen.
Die Russen haben Erfahrungen in Umsiedlungen ganzer Völker. Sie haben die Tschetschenen und andere in den 1930-er Jahren in Viehwaggons getrieben und Richtung kasachische Steppe gefahren. Wer den Transport überlebt hatte, wurde irgendwo in der Steppe "in die Freiheit" entlassen. Man baute sich Hütten und überlebte ... irgendwie. In den 1950-er Jahren durften diese Leute erst in die Heimat zurück. Jedoch die meisten ihrer Häuser waren von Russen bewohnt. Erneut begann man von Null sich einzurichten.
Mut und Leichtsinnigkeit eines orthodoxen Priesters
Er entsprach dem Bild, was mir von einem orthodoxen Priester immer vorschwebte: hochgewachsen, stämmig, mit langem Vollbart und einer extrem tiefen Stimme. Er trug einen langen schwarzen Umhang mit langen Ärmeln und auf der Brust war ein großes orthodoxes Kreuz an einer grobgliedrigen Kette befestigt.
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