Insgesamt erfuhren wir im Laufe unserer Gespräche Folgendes:
Als die russischen Truppen vor drei Tagen die "Säuberung" des Dorfes durchführten, befanden sich etwa 50 bis 60 bewaffnete Tschetschenen, Boewiki im Ort. Die Soldaten seien von Hof zu Hof gezogen, in die Häuser eingedrungen und hätten willkürlich Möbel, Ställe oder Gebäude zerstört. Nachdem sich die russische Infanterie aus dem Dorf zurückgezogen hätten, wurde den bewaffneten Tschetschenen ein Korridor geöffnet, durch den sie ohne Verluste das Dorf verlassen konnten. Der anschließend für die Bewohner zur Verfügung gestellte Flucht – Korridor sei weder zeitlich noch räumlich ausreichend gewesen, um eine sichere Evakuierung zu gewährleisten. Und dann habe vor den Augen der fliehenden Zivilbevölkerung die systematische Vernichtung des Dorfes mit massiertem Artillerie- und Hubschrauberbeschuss begonnen. In dieser Zeit hätte sich ein Teil der Menschen noch im Ort befunden. Später hätten sich Raub und Plünderungen vor allem nachts durch z.T. betrunkene russische Soldaten fortgesetzt. Ein Augenzeuge, der sich mit seiner Adresse verbürgt hat, berichtete davon, dass willkürlich Menschen gefesselt und anschließend getötet wurden,
indem sie aus fliegenden Hubschraubern gestoßen worden seien. Er schwor bei seiner Ehre, dass er dies selbst gesehen habe.
Hunderte von Flüchtlingen campieren im Nachbarort Slepzowskaja. Eine Rückkehr in ihr Heimatdorf war erschwert durch den hohen Zerstörungsgrad, durch das Fehlen von Wasser, Elektrizität, Heizmaterial sowie durch die Angst vor den anhaltenden nächtlichen Raubzügen.
Wiederholt wurde auch über die gezielte Jagd und Beschießung von Fahrzeugen und Menschen durch Hubschrauber berichtet, deren Herkunft nicht feststellbar sei, weil sie ohne
sichtbare Kennzeichen flögen.
In all diesen Fällen waren nie Bevollmächtigten der moskautreuen Regierung vor Ort, um nach den Gefechtshandlungen die Lage festzustellen und erste Hilfsmaßnahmen zu organisieren.
Die erste humanitäre Hilfe erfolgte unter unsagbarem Einsatz durch internationale Hilfsorganisationen, vor allem durch das IKRK.
Der neue russische Militärkommandant des Dorfes - ein Oberst hatte angeordnet, am Checkpoint sowie am Kommandanturgebäude die Flagge der Sowjetunion zu hissen. Nach einer Kontrolle meiner Dokumente (vom Befehlshaber der Föderationstruppen genehmigte uneingeschränkte Bewegungsfreiheit) machte der Oberst unmissverständlich deutlich, dass er im Dorf der King sei und ich mich künftig nur mit russischer Begleitung in
seinem Reich zu bewegen habe, da nicht auszuschließen sei, dass auch OSZE- Personal Opfer von Hubschrauberattacken werden könne. Im übrigen, so der Oberst, würden in seinem Dorf sowjetische Traditionen und Gesetze herrschen. Man erzählte, es habe sogar bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Einheiten dieses sich zur Sowjetunion bekennenden Kommandeurs und seinen Rivalen, die stolz die russische Flagge zeigten.
Wir näherten uns dem Nachbardorf Samaschki. Der Name dieses Dorfes ist bereits im Frühjahr 1995 um die Welt gegangen. Große Teile der Häuser sind durch russische Bomben und Artilleriegeschosse zerstört, die Bevölkerung ausgeraubt und vertrieben worden. Frauen wurden vergewaltigt – in der moslemischen Großfamilie Grund genug zum ewigen Verstoß aus dem Clan. All diese Unmenschlichkeiten liegen eben gerade ein Jahr zurück und wieder kursieren Meldungen über eine zweite Vernichtung des Dorfes. Als wir uns dem Dorf näherten, kamen Frauen, Kinder und zum Teil auch alte Männer entgegen. Der Ort selbst ist noch hermetisch von Inneren Truppen abgeriegelt. Mein skandinavischer Kamerad sprach mit einem der Posten und es gelang. Einer der Soldaten begleitete uns zur Kommandantur. Als der Soldat das Fahrzeug verlässt, um die Ausländer im Kommandanturgebäude anzumelden, nutzte ich, der am Steuer saß, die Gelegenheit, schnell weiter ins Dorf hinein zu fahren. Es folgen schreckliche und unbeschreibliche Bilder und Szenen. Es war eine unbeschreibliche Stille zwischen den Ruinen, obwohl in den Kellern ihrer Häuser noch Leute saßen. Ein alter Mann stottert aufgeregt, er werde seinen verwüsteten Hof und sein zerstörtes Haus nicht verlassen. Im Krieg gegen die Deutschen, die er nie als seine Feinde betrachtet hatte, habe er für Großrussland gekämpft und gelitten. Nun leide er wieder durch Russland. Leider sei er zum Kämpfen zu alt und zu schwach.
Es sind kaum zehn Minuten vergangen, als ein gepanzertes Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen des Dorfes jagte. In der Parallelstraße stoppt es, stößt zurück und verfolgt unser Fahrzeug der OSZE. Ich betrachtete es als zweckmäßig, rechts ran zu fahren und zu halten. Wir wurden zum Kommandanten begleitet. Dieser belehrte uns selbstherrlich über die Tradition seiner Truppe und über die Unfehlbarkeit der russischen Streitkräfte überhaupt. Uns wurde das Wort überhaupt nicht erteilt. Schnell eskortierte man unser Fahrzeug aus dem Dorf.
Wenn man durch das Land im Nordkaukasus fährt, fallen die sauberen Dörfer ins Auge. Überall wurde geharkt, geputzt und irgend etwas gewerkelt. Selbst nachdem Gebäudeteile oder Fensterscheiben infolge von Waffeneinsatz zerstört wurden. Lange war kein Schaden zu sehen. Da wurde aufgeräumt und aufgebaut. Und dies selbst auf die Gefahr hin, dass mit weiteren Zerstörungen zu rechnen ist. Der Aufbau, so sagen die Tschetschenen, ist eine Form des Widerstandes.
Nach der Deportation der Nordkaukasusvölker und auch der Wolgadeutschen in die zentralasiatischen Steppen sollen die tschetschenischen und auch die Dörfer der Deutschen deutlich von den kasachischen oder russischen äußerlich unterscheidbar gewesen sein.
Tschetschenien - das ist die naturgegebene eindrucksvolle Stille der unberührten Bergwelt des Kaukasus.
Am Fuße der weißen Berge verspürt man die Unendlichkeit von Zeit und Raum.
Man fühlt den Geist des seit Jahrhunderten nach Freiheit strebenden tschetschenischen Volkes. Man kann in Ansätzen fühlen, wo die Quelle der Kraft und Ausdauer dieser Menschen liegt.
Die Tschetschenen haben trotz ständiger nationaler Unterdrückung, trotz Deportation - oder vielleicht gerade deshalb wie kaum ein anderes Volk ihre alten Traditionen, Sitten, Gewohnheiten und Gebräuche bewahrt.
Ich hielt mich einige Wochen in einem Dorf weit südlich von Grosny auf.
Wir schrieben April des Jahres 1996 im oberen Arguntal bei Schatoi. Ich saß auf der Treppe zum Wohnhaus des Asujew-Clans. Die Stille des Frühlingstages war trügerisch.
Es war Krieg – ein nicht erklärter Feldzug gegen das Volk der Weinachen.
Meine Gedanken irrten wild durch die Vergangenheit – nach Russland, in das ferne Mecklenburg und nach Sachsen, wo ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte. Ist dies die Stunde der Abrechnung? Unentwegt nähern sich paarweise Jagdbomber dieser Idylle und zerrissen die Stille mit dem Dröhnen der Triebwerke und den Detonationen der Bomben und Raketen.
Wann würde dieses Inferno ein Ende haben?
Was suche ich hier am Großen Kaukasus? Welcher Teufel schickte mich in diese Hölle?
Wer bestraft mich, dieser Gefahr ausgesetzt zu sein und diese Entbehrungen auf mich zu nehmen?
Diese Fragen blieben unbeantwortet, denn es ist eine halbe Lebensgeschichte, die zur Beantwortung zu erzählen wäre.
Ich überlegte, worin der Unterschied besteht zwischen den Menschen, die in einem abgelegenen Dorf in der Weite Russlands abends vor ihrem Haus sitzen und den Asujews, die im Nordkaukasus das Gleiche tun. Warum werden die einen in Ruhe gelassen und die anderen immer wieder bestraft? Die einfachen Tschetschenen standen immer für die Russen ein. Im Großen Vaterländischen Krieg haben viele der Älteren mit viel Tapferkeit für die Sowjetunion gekämpft. Ihnen wird kein ruhiger Lebensabend gegönnt. Krieg wird über sie gebracht.
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