Es hatte wirklich damit angefangen, dass er Dingen, Bildern, Lebewesen einen anderen Klang geben, anders benennen musste. Das geschah zu Anfang ganz spontan, später machte er eine Methode daraus. Zum Beispiel gefiel ihm der Klang des Wortes Spinne nicht, er nannte das Tier Tiuvana, Netz klang ihm zu brutal. Er nannte das kunstvolle Gebilde Schai. Mutter hatte die gleiche Bedeutung wie Nabel und hieß bei ihm Schevascha. Seine neuen Vokabeln schrieb er in lateinischen Buchstaben, bald aber gebrauchte er Laute, die mit dieser Schrift nur unzulänglich, wenn nicht gar unmöglich auszudrücken waren. Also musste er eine neue Schrift entwickeln. Natürlich, das war es, eine neue Schrift, eine geheime, nur ihm zugängliche Schrift musste geschaffen werden. Oh, was war es für eine Freude, damit zu experimentieren. Zu einem Geburtstag ließ sich Gottfried von seiner Mutter ein Kalligraphie-Set schenken, nun ging es hurtig mit der Arbeit voran.
Zunächst waren es nur die einzelnen Phänomene gewesen, die er neu benannte, jetzt, wo er auf dem Gymnasium war, machte er sich daran, eine Grammatik auzusarbeiten. Da er von Haus aus maulfaul war, war es eine Grammatik, bei der man mit wenigen Silben lange Sätze ausdrücken konnte. Insgesamt hatte die Entwicklung dieser Grammatik sechs Jahre in Anspruch genommen. Aber im Grunde genommen arbeitete er heute noch daran. Übrigens hatte er sich in der Sexta zweimal wirklich im Unterricht interessiert gezeigt. Einmal als man in der Religionsstunde im Alten Testament eher zufällig zu der Stelle gelangt war, in der Jahwe von sich behauptet: „Ich bin ein eifersüchtiger Gott.“ Da hatte sich Gottfried gemeldet, um den Lehrer zu fragen, was Gott damit meinte. Er brachte den biederen Pauker damit in ziemliche Verlegenheit, besonders nachdem Gottfried behauptete, er wisse es und ein mokantes Lächeln aufsetzte. Sein Wissen wollte er allerdings nicht preisgeben. Ein anderes Mal hatte es ihn in der Musikstunde gepackt. Der Lehrer hatte eine Schallplatte mit den verschiedenen Musikrichtungen der Völker mitgebracht, um sie vorzuspielen. Als Gottfried indische Musik hörte, wurde er sehr erregt, besonders die Sitar hatte es ihm angetan. Seitdem wurde das Sitarspiel Ravi Shankars Gottfrieds musikalische Begleitung durchs Leben.
Sie waren mit dem Taxi wieder an der Pension Schönblick angelangt. Unter erheblichem Flüssigkeitsverlust schaffte er sein Gepäck aufs Zimmer. Der Schnauzbärtige stand reglos hinter seinem Tresen und machte unentwegt „Hmpf, hmpf“, wobei er dichte Zigarrenrauchwolken ausstieß. Gottfried ignorierte ihn. Auf seinem Zimmer labte er sich am Wasserhahn, ehe er ans Auspacken ging.
Die wichtigsten Kleidungsstücke für Gottfried waren seine fünf Pyjamas, die er immer trug, wenn er das Haus nicht verlassen musste. Der Rest bestand aus einigen billigen Hemden, acht Unterhosen, acht T-Shirts, zwei Kordhosen, zehn Paar Socken, drei Pullovern, einer gefütterten Windjacke und drei Paar Schuhen. Das Zeug stopfte er achtlos in eine Ecke des großen Schrankes. Er war anspruchslos in vielerlei Hinsicht. Er rauchte nicht, trank nicht, seine Lieblingsgetränke waren frisches Leitungswasser und Milch, auch ans Essen stellte er keinerlei besondere Ansprüche. Wenn er Hunger hatte, aß er, was eben erreichbar war, meistens werkelte er, während er an irgendeinem belegten Brot kaute. Seine Mutter hatte es bald aufgegeben, ihn zum Essen zu rufen. Mit ihm zu essen war nicht eben unterhaltsam, ihm dabei zuzusehen nicht besonders appetitlich.
Das Einordnen der weiteren Kladden, Bücher und Zeichenblöcke nahm eine Menge Zeit in Anspruch, Gottfried merkte kaum, dass ihm die Zeit davonlief. Als er endlich auf die Uhr sah, war es bereits halb acht. Gottfried schloss seinen Kassettenrekorder an, den er schon bei seiner ersten Fuhre mitgebracht hatte, legte ein Band mit indischer Musik ein und dachte nach. Sollte er den Rest lieber morgen holen, nachdem er die erste Nacht im neuen Heim probiert hatte? Gottfried benötigte gewisse Schwingungen, um seiner Aufgabe als Gott gerecht zu werden. Hier in dieser Welt brauchte er keine Paläste, Tempel oder dergleichen, doch brauchte er eine Sphäre, eine unsichtbare Schichtung von Wellen, die nicht so ohne weiteres zu beschreiben sind. In seiner Sprache, mit seiner Schrift war dies ohne große Schwierigkeiten darstellbar. Gottfrieds Gedanken schweiften ab. Er lachte vergnügt vor sich hin, als er sich erinnerte, wie seine Mutter auf seine Schrift reagiert hatte. Eines Tage hatte er vergessen, die Tür abzuschließen, da hatte sie sich in sein Zimmer geschlichen, als er gerade Selbstversunken mit dem Kalligraphie-Set arbeitete.
„Aha,“ kreischte sie mit diebischem Vergnügen, „wohl eine Geheimschrift, oder so was, mit der du schlimme Gedanken über mich aufschreibst!“
Was glaubte diese überhebliche Kuh eigentlich, welche Bedeutung sie für ihn, die übrige Welt und den Kosmos überhaupt hatte! Mit seiner heiligen Schrift ausgerechnet über sie zu schreiben, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Gottfried klappte seine Kladde zu, schwieg und war in Zukunft vorsichtiger.
Ähnlich war es gewesen, als er später immer häufiger für immer längere Zeit in seinem Kellergewölbe untertauchte. „Treibst du da unten Schweinskram?“ - oder - „Guckst du da unten schweinische Filme?“ hatte sie später bisweilen durch die Kellertür gerufen. Aus irgendwelchen Gründen aber hatte sie sich sehr selten hintergewagt, um nachzusehen.
Ein Poltern an der Tür schreckte ihn aus diesen Erinnerungen, die Stimme des Schnauzbärtigen dröhnte: „Da unten ist Zeug für Sie abgegeben worden, machen Sie, dass es da wegkommt.“ Gottfried stärkte sich mit einem Schluck aus der Wasserleitung und ging hinunter. Man konnte wohl nicht abwarten, dass er aus dem Haus war. Richtig, Maria Kreeter hatte den Rest seiner Habseligkeiten einem Taxifahrer mitgegeben, der die Sachen nun in der Pension abgeladen hatte - zwei Koffer und eine große Reisetasche. Die Reisetasche war nagelneu, er hatte sie nie benützt. Das letzte Weihnachtsgeschenk seiner Mutter. Vielleicht ein erster, dezenter Hinweis, sich endlich aus dem Staub zu machen.
Endlich wieder auf seinem Zimmer, öffnete Gottfried die Koffer. Mit geübtem Blick stellte er fest, dass alles komplett war. Die abgewetzten Koffer (eine freundliche Leihgabe seiner Mutter) waren angefüllt mit kleinen holzgeschnitzten Figuren etwa von der Größe von Duplospielzeugpuppen. Sie waren nackt, männlich, weiblich und einige wenige hermaphroditisch. Sie waren hellbraun bemalt, ihre Köpfe waren mit echtem Haare versehen. Die Gesichtszüge waren fein aus dem Lindenholz herausgearbeitet und waren keiner, auf dieser Welt bekannte Rasse zuzuordnen. Am ehesten glichen sie vielleicht einer indioamerikanischen Mischart. Auffällig waren große Augen, breite, volllippige Münder und scharfe Nasen.
Die Reisetasche enthielt Kleidungsstücke, die zu diesen Figuren passten. Zumeist waren sie aus Seide oder feinster Baumwolle gefertigt, farbenfroh, mit kühnen, exotischen Mustern. Daneben aber gab es auch grobgewirktes Tuch, ärmliche Fetzen, schmutzig und uralt. Alles die Arbeit eines halben Menschenlebens. Gottfried lächelte befriedigt und labte sich wieder am Wasser, dieses Mal benutzte er aber ein Glas, das er auch der Reisetasche entnahm. Es war ein schön geschliffenes Gefäß, aus böhmischem Glas mit Goldrand, das seine Mutter anlässlich seiner Geburt von ihrer Freundin erhalten hatte. Als sie noch an sein Genie geglaubt hatte, hatte sie es ihm zu einer längst vergessenen Gelegenheit geschenkt.
„Zur Geburt des einzigartigen Gottfried 8.8.48“ war in das Glas geschnitten.
Der ungewöhnliche Tag hatte Gottfried müde gemacht, er beschloss zu Bett zu gehen. Ehe der Schlaf ihn umfing, tat Gottfried, was er schon immer getan hatte seit jenem denkwürdigen Abend, kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag, er besuchte sein Volk. Heute, so nahm er sich vor, würde er sein Volk mit den Augen eines einfachen Bauernknechtes betrachten.
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