Gottfried hatte eine Eigenschaft, um die ihn viele Zeitgenossen beneidet hätten. Er war immer völlig sorglos gewesen und war es auch jetzt. Warum sollte sich ein Gott wohl auch Sorgen machen?
Er hatte sich nicht gesorgt, als in seiner Mutter damals ganz zart der Verdacht aufkeimte, dass es mit seinem Genie vielleicht doch nicht so weit her sein könnte, und ihm nach und nach ihre Aufmerksamkeit entzog.
Es begann damit, dass sie ihm schon vor der Grundschule Rechnen, Lesen und Schreiben beibringen wollte. War es doch möglich, dass in Götti bereits Ideen schlummerten, die zu Papier gebracht werden wollten, je früher desto besser. Wie war es denn mit Mozart gewesen? Sie hatte ihm also Buchstaben, arabische und römische Ziffern vorgezeichnet und erwartete, dass er sich mit glühendem Eifer und voller Ungeduld daran machte, sie formvollendet nachzuzeichnen.
Sie sah ihn bereits komplizierte mathematische Gleichungen lösen, elegante, kluge Sätze voller Esprit niederschreiben.
Der kleine Götti aber hatte seinen eigenen Kopf. Die Buchstaben sahen nur sehr entfernt nach einem A oder C oder W aus. Zu ihrem Leidwesen musste Maria Kreeter feststellen, dass ihr Götti einen fatalen Hang hatte, alles und jedes zu verschnörkeln, zu verdrehen, auf den Kopf zu stellen, oder gar völlig anders darzustellen. Sie wurde manchmal sehr streng zu ihm. Götti verschloss seine winzige Schnute und brachte ein Ungeheuer aufs Papier, groß und furchterregend. Sollte er rechnen, bedeckte er ganze Seiten mit undefinierbaren, abstrakten Gebilden und murmelte dabei unverständliches Zeug. Sie schimpfte mit ihm, schlug ihm auf die Stummelhändchen, nichts half. Schließlich tröstete sie sich damit, dass es der Schule gewiss gelingen werde, sein Genie ans Tageslicht zu fördern. Gleichzeitig aber hatte sie auch wieder Angst vor dieser Institution - der schlechte Einfluss der Mitschüler! Noch etwas machte ihr zu schaffen in jenen Tagen - sein Aussehen. Gemeinhin sagt man ja, dass aus den hässlichsten Babys die hübschesten Kinder, die schönsten jungen Menschen werden. Bei ihrem Götti schien aber eher das Gegenteil der Fall zu sein. Immer wieder musste sie sich einreden: (manchmal laut) „Das wächst sich aus, das wächst sich aus.“
Ja, damals war der Keim zu seiner Gottwerdung gelegt worden. Damals, als er während der langen Stunden, die seine Mutter fort war, mit einer Taschenlampe durch die Kellergewölbe gestreift war. Stundenlang konnte er im schwachen Licht die grob verputzten Wände anstarren. Teilweise war der Putz abgeblättert und hatte seltsame, tierähnliche Formen erzeugt, die nackten, grobgehauenen Natursteine blickten durch. Manchmal erweiterte er die Löcher im Putz, was sehr leicht ging, und schuf damit die Umrisse von allerlei Getier, von merkwürdigen Landschaften, Stadtansichten, bizarren Pflanzen. Einmal fand er in einem der Kellerräume eine rostige Hellebarde mit wurmstichigem Schaft, die vielleicht einmal das Entree der alten Villa geschmückt hatte. Diese alte Waffe wurde für ihn ein heiliger Gegenstand, vergleichbar etwa mit einem Bischofsstab. Aber es gab auch andere interessante Dinge hier in der Unterwelt - Spinnen zum Beispiel. Sie wurden seine Lieblingstiere, die er manchmal mit Fliegen und Schmetterlingen fütterte, die er im Garten fing. Wieder oben in seinem Zimmer malte er sie und ihre Netze in unzähligen kühnen Variationen. Gottfried erinnerte sich genau an den Tag, als er seiner Mutter stolz ein paar von diesen Zeichnungen zeigte, erinnerte sich an ihr entsetztes Gesicht und wie sie voller Abscheu seine Werke, die Gelungensten übrigens, wie er fand, kurzerhand zerriss. Seit diesem Tag hatte sie endgültig bei ihm verspielt.
Gottfried seufzte und erhob sich von der Couch, er musste zurück, um die restlichen Sachen zu holen, auch um sich zu vergewissern, dass sein Kellerraum auch wirklich gegen jeden Eindringungsversuch gesichert war.
Als er wieder am Empfangstresen vorbeikam, erhob sich der Schnauzbärtige wieder und machte: „Hmpf, hmpf.“ Gottfried setzte sein hochmütiges Lächeln auf.
Die Busse waren nun völlig überfüllt und er beschloss zu Fuß nach Hause zu gehen. Hätte er gewusst, wie viel Zeit und Schweiß das in Anspruch nehmen würde, hätte er sich vermutlich doch bequemt, sich in den Bus zu quetschen.
Er dachte an seine Einschulung, und wie ihn seine Mitschüler angestarrt hatten, denn im Prinzip sah er damals schon so aus wie heute, nur seine Haare waren vermutlich damals besser gekämmt. Maria Kreeter hatte natürlich nichts Besseres zu tun gehabt, als seiner Lehrerin von oben herab zu erklären, dass er hier auf der Grundschule höchstwahrscheinlich nur ein kurzes Gastspiel geben werde, weil er nämlich die Klassen bis zur Gymnasialreife nur so überspringen würde. Das hatte der Lehrerin sichtbar gefallen. Sogleich wurde er ihr „Lieblingsschüler“, obwohl Götti sich so unauffällig verhielt, wie nur irgend möglich. Er setzte sich allein in eine Bank ganz hinten, und niemand hatte etwas dagegen. Es half alles nichts, immer war er dran. Der Lehrerin und seinen Mitschülern machte es wirklich Spaß ihn unentwegt hereinzulegen, was die Lehrerin natürlich mit mehr Raffinesse bewerkstelligte. Gottfried entpuppte sich mitnichten als Genie, er war bestenfalls guter Durchschnitt. Denn um nicht aufzufallen, strengte er sich wirklich an, richtig zu schreiben und zu lesen, obwohl er zu der Zeit gerade begonnen hatte, Seine Sprache zu entwickeln. Zu Hause bei seiner Mutter beschwerte er sich nie über die, teilweise recht gemeinen, Streiche seiner Schulkameraden. Über den feinen Sadismus und die Ungerechtigkeit, die ihm seine Lehrerin angedeihen ließ, hielt er ebenso sein Mündchen. Als er nach einem halben Schuljahr noch immer seinen Genius verborgen hielt, begann Maria Kreeter allmählich das Interesse an ihrem Götti zu verlieren. Sie nannte ihn nun (wie froh er war) schroff Gottfried. Nun hätte sie es gern gesehen, wenn er mit anderen Kindern gespielt hätte, denn sie begann sich wieder für Männer zu interessieren, wie Gottfried mit Entsetzen feststellen musste. Es war seltsam, zwar war sie ihm irgendwie gleichgültig, aber der Gedanke, sie könnte mit fremden Männern irgendwelche „Doktorspiele“ veranstalten, missfiel ihm über die Maßen. Natürlich tat Gottfried ihr nicht den Gefallen, mit anderen Kindern herumzutollen, und welche Kinder hätten das auch schon gewollt? Nein, Gottfried hatte einfach keine Zeit für diesen Unsinn.
Endlich war er wieder an der alten Villa angelangt und klingelte. Seine Mutter öffnete mit gerötetem Gesicht. Eine Art Party schien im Gange zu sein. Feierte man Gottes Hinauswurf? Die alte Freundin seiner Mutter war da, zwei andere ältere Damen, die er nicht kannte und ein ebenso unbekannter fideler, bezechter Greis. „Na, geht’s endlich in die Welt hinaus, Gottfried?“ rief die alte Freundin munter. „Schaot!“ entgegnete er, was soviel heißt wie: „Stinkender Schlitz“. „Immer noch der alte Gottfried“, lachte die unwissende alte Dame. „Vergiss dein Zeug aus dem Badezimmer nicht“, ermahnte ihn seine Mutter. Dorthin ging er als erstes. Das Rasierzeug warf er in den Abfallkorb, fürderhin würde er bärtig durchs Leben gehen, Rasieren, eine reine Zeitverschwendung.
„Schaot“ brachte ihn aber auf die Idee mit dem Taxi, als sie das schwere Gepäck sah, das er noch zu bewältigen hatte. Er würde wohl doch noch einmal kommen müssen.
Der Taxifahrer staunte nicht schlecht, als er die alten, prallen Koffer sah. Der Wagen lag ziemlich tief, als sie abfuhren.
Irgendwie hatte Gottfried den Sprung aufs Gymnasium dann doch noch geschafft. Aus diesem Anlass hatte sich seine Mutter aufgerafft, mit ihm einen Zoobesuch zu machen. Gottfried war sehr aufgeregt, seine Augen schienen sich wieder nach Außen zu wenden. Aber dann nervte er seine Mutter, indem er zum Beispiel beim Anblick eines Elefanten sagte: „Bei mir sieht das Tier ein bisschen anders aus und heißt Buhando.“ Oder er verriet über ein Krokodil, dass es bei ihm nicht vorkäme, dagegen wären bei ihm so genannte Tall’al’alli recht zahlreich. Maria Kreeter seufzte. Was war bloß mit diesem Jungen los? Sie verbarg ihren Verdruss nicht im geringsten, sodass Gottfried endlich schwieg, auch ihr Angebot, ein Eis zu essen ausschlug und als sie ihn fragte, ob es ihm gefallen hätte, nur stumm mit dem Kopf nickte.
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