1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Je mehr die Zeit untätig verstreicht und er sie mit Coucou kokettieren hört, desto größer wird sein Ärger, fast gerät er hysterisch in Panik wie ein süchtiger Trinker, der erschrocken feststellt, das kein Alkohol mehr im Haus ist. Kann sie denn nicht wenigstens einmal, ein einziges Mal von sich aus auf den Gedanken kommen? Er spürt, wie ihm der Ärger und die Frustration siedend zu Kopfe steigt. Weiß sie denn nicht, dass in einer Stunde Pauline aufkreuzt? Aber Madame kommt nicht, sie muss in den Journalen blättern und ihren Papagei karessieren. Wieso hat sie nicht ihren Papagei geheiratet? Am liebsten würde er ihn vergiften.
Schließlich ist es zu spät, sie hat ihn zwei Stunden schmoren lassen, ohne sich um sein Befinden zu scheren. Wie oft ist ihm das schon passiert! Da glaubt er, dass er die falsche Frau hat. Eine sexuell so uninteressierte und degagierte Frau ist nichts für ihn. Er braucht eine sinnliche Frau, die auf seine Natur eingeht, ohne dass man ihr immer erst eine schriftliche Einladung schicken muss. Sicher ist das der Grund, warum so viele Männer ihren Frauen davonlaufen. Soll er sich von ihr trennen? Aber sie ist ein so gutes Ding, einfach nur gut – schreibt er. Sie ist ein kreuzbraves, ehrliches, gutes Geschöpf, ohne Falsch und Böswilligkeit . Sie ist vom edelsten und reinsten Herzen, gut wie ein Engel . Und auch so geschlechtslos.
So kommt er zu dem Schluss, dass er trotz allem bei ihr bleibt, indes – ohne ihr körperlich treu zu sein. Das wäre unlogisch und widersinnig: ihr in der körperlichen Liebe die Treue zu halten, wenn sie auf die körperlichen Liebe von sich aus so wenig Aplomb legt. Da sie, in sinnfälligem Unterschied zu ihm, keine besonderen sinnlichen Ansprüche hat, hat sie auch keinen Exklusivitätsanspruch auf seine Sinnlichkeit. Ist man in einer Ehe nicht auch körperlich ein Fleisch, dann ist auch keine Ehe zu ,brechen'. Er kann ihr also ruhig ab und an untreu werden ... –
Später, als Pauline schon da ist, merkt sie ihm seinen unterdrückten Ärger an und fragt, was er hat. Die Frage macht ihn noch verärgerter. Nichts , sagt er dann. Wenn sie nicht von sich aus darauf kommt, kann er es ihr doch nicht auch noch wie einem unmündigen Kind verklickern müssen. Geradeso gut könnte man versuchen, einem Farbenblinden das Farbensehen zu erklären. Wenn sie keinen Sinn für Sinnlichkeit hat, dann auch für seine Frustrationen nicht.
So wird er gar auf ihren Papagei eifersüchtig. Sie leben schon lange zusammen, als er, voll Eifersucht über ihre abgöttische Liebe zu dem Tierchen, Weill eines Tages verrät: „Ich werde ihn vergiften, aber sagen Sie ihr um Gottes willen nichts, ich hätte für immer bei ihr verspielt.“ Weill kauft also heimlich Schierling. An dem Tag essen sie zusammen außerhalb im Restaurant und gehen dann gemeinsam wieder nach Hause; in Erwartung einer Szene hat Henri den Freund gebeten, mitzukommen. Als Mathilde ihren toten Papagei entdeckt, stößt sie einen schrecklichen Schrei aus, einen wahren Herzensschrei; sie wird fast ohnmächtig und wälzt sich, ohne Rücksicht auf Henri und ihn, auf dem Boden umher, schluchzt und schreit: „Nun bin ich ganz allein auf der Welt!“
Die andern beiden müssen lachen. „Was“, ruft Henri, „ich bin dir also nichts?“ Da springt sie mit einem Satz auf, und in der Pose Alicens vor Bertram in Meyerbeers Robert le Diable ruft sie: „Gar nichts! Gar nichts!“ Henri lacht immerzu; Weill, der eine heftige eheliche Szene voraussieht – er hat ja schon manch ein Gerangel auf dem häuslichen Teppich erlebt –, macht sich aus dem Staub.
Anderntags ist der Friede wieder geschlossen, aber der Schrei: „Nun bin ich ganz allein auf der Welt!“, der jäh aus ihrem Herzen hervorbrach wie ein Springquell aus einem Felsen, bildet noch jahrelang das Thema ihres Tischgesprächs. Mathilde erfährt nie, wer der Mörder ihres Papageis ist; sie würde es ihm nie verzeihen. Henri aber kauft ihr nach acht Tagen einen neuen; der ist allerdings hässlicher und bedeutend billiger, und Mathilde ist in ihn nicht so ausschließlich vernarrt wie in seinen Vorgänger. Um ihr den hübschen Ausspruch gebührend heimzuzahlen, bemerkt er bei anderm Anlass: „Wenn ich sterbe, enterbe ich meine Familie völlig zugunsten meiner Frau (der große Dichter hat keine Kinder); auf diese Weise bin ich dann sicher, dass es wenigstens einen Menschen auf der Welt gibt, der meinen Tod bedauert.“ –
Die Krise zwischen den Weills und den Heines bahnt sich auf die folgende Weise an. Eines Tages klagt Mathilde über Kopfschmerzen. Heine und Alexandre gehen allein aus; er wohnt zurzeit vier Treppen hoch, Faubourg Poissonière. Als sie unten sind, sagt Henri: „Ich habe mein Portemonnaie vergessen; Sie haben jüngere Beine als ich, gehen Sie hinauf und holen Sie es mir bitte, es liegt auf dem Kamin im Schlafzimmer.“ Weill fliegt die Treppe hinauf, nimmt immer vier Stufen auf einmal, tritt geradenwegs ohne anzuklopfen ins Schlafzimmer, und was sieht er? Mathilde, die ihr Hemd wechselt! Sie stößt einen leisen Schrei aus und lässt ihr Hemd fallen. Im Nu ist er wieder verschwunden. Wieder bei Henri unten, sagt er ihm: „Ich habe Mathilde nackt gesehen, wie Gyges das Weib des Königs Kandaules.“ – „Da haben Sie etwas sehr Schönes gesehen“, antwortet dieser, „das Weib des Kandaules war sicher nicht schöner.“ Und sie sprechen von etwas anderm.
Wie die Anspielung zeigt, sind die beiden Freunde um historische Vergleiche niemals verlegen. Laut Herodot nämlich war König Kandaules – den die Griechen Myrsilos nennen, ein Nachkomme des Herkules – dermaßen in sein eigenes Weib verliebt, dass er seinem getreuen Leibwächter Gyges überschwänglich von ihrer außergewöhnlichen Schönheit erzählt. Wir wissen allerdings nicht genau, was er ihm alles erzählt hat. Jedenfalls, als Gyges aus Schamgefühl davon nichts weiter mehr wissen will, zwingt Kandaules ihn, seiner Frau im Geheimen beim Umkleiden zuzusehen. Laut Platons Politeia benutzt Gyges sogar einen unsichtbar machenden Ring, um die Königin ungesehen zu sehen. Diese erkennt Gyges jedoch, als er sich wieder aus dem Zimmer schleicht, und zwingt ihn – da er sie nackt gesehen habe – tags darauf zu der Entscheidung, entweder durch die Hand ihr treu ergebener Diener zu sterben oder aber den König zu töten und sie zur Frau zu nehmen. Schweren Herzens wählt Gyges das schöne Weib, das Leben und das Königstum. Bestätigt durch einen Spruch des delphischen Orakels, wird seine Herrschaft auch von den Anhängern des Kandaules anerkannt.
Nicht ganz so dramatisch ist der Fortgang der Szene in Paris, wo Alexandre anderntags eigens zu ihnen zum Essen kommt. Mathilde, die ihn lächelnd im Morgenrock empfängt, sagt zu Henri: „Denk mal, er hat mich nackt gesehen, ich wechselte gerade mein Hemd, als er ohne anzuklopfen eintrat.“
„Etwas Besonderes habe ich eigentlich nicht gesehen“, sagt Weill zu ihr; „Suzanne ist ebenso schön wie Sie.“ –
„Sie Lügner, das ist nicht wahr!“, ruft sie. „Schatz“, fügt sie hinzu, „ich bringe dich zu Suzanne, du wirst sehen, sie ist längst nicht so schön wie ich!“ –
„Wollen wir wetten?“, antwortet Weill. –
„Ach so“, meint sie, „ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen; Sie möchten mich gern noch einmal sehen, aber damit ist Schluss. Einmal ist keinmal!“
Daraufhin trinken sie auf ihre Schönheit – nackt oder nicht nackt. –
George Sand mokiert sich über Henris verteufelt witzige Aperçus. Eines Abends sagt er über Alfred de Musset: „ C'est un jeune homme de beaucoup de passé. – Ein junger Mann mit viel Vergangenheit.“ –
In Paris existiert eine Sammlung englischer Kupferstiche, auf denen Shakespearesche Frauengestalten dargestellt sind. Der Buchhändler Delloye, der die Rechte dafür hat, plant eine deutsche Ausgabe und wendet sich für einen verbindenden Text, mitsamt einem ansehnlichen Honorar, an den berühmten Heine. Der lässt sich nicht zweimal bitten. Journalistische Arbeit kommt ihm allemal gelegen, außerdem liefert es ihm einen willkommenen Grund, einmal wieder intensiv Shakespeare zu lesen. Sein Leben lang hat er sich mit dem großen Briten beschäftigt, und da er sich immer schon für Mädchen und Frauen interessierte, kommt ihm das Thema gerade recht: Shakespeares Mädchen und Frauen .
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