1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Die Liste derer, die eine Kostprobe ihres Scharwenzelns und bei Annäherung eine kalte Dusche erhalten hatten, war umfangreich. Trotz ihres Alters mit ihrer fehlenden Frische besaß sie noch Reizvolles. Obenherum war sie von angenehmer Fülle und Weichheit, ihr Hals, zwar etwas zu lang, war makellos und auf bewundernswerte Weise fast ohne Fältchen. Ihr Hinterteil, nicht flach und breit, sondern ansehnlich kräftig nach außen gebogen und so eine Rundung beschreibend, die sich in einer engen Hose gut sichtbar wölbte, formte ihre sonst schlanke Gestalt mit ein wenig Üppigkeit aus, die ihr gut stand und ihr etwas Verschwenderisches und Auffälliges verlieh. Ihre Motorik hingegen erinnerte an ein schutzbedürftiges Reh. Der Verliebten waren einmal Tränen der Rührung aus den Augen geflossen, und sie hatte einen wehmütigen Schmerz in der Herzgegend verspürt, als sie zusah, wie jene mit ihren schwachen Armen versucht hatte, eine verklemmte Tür aufzustemmen. Der Anblick war bezaubernd gewesen.
Als sie aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, wurde ihre Hoffnung enttäuscht, dass sich unterdessen etwas von allein entheddert haben könnte. Ihre Stirn wurde heiß, und sie fand, dass es besser war, kurz entschlossen und tätig in Erscheinung zu treten, als weiter nachzudenken. Sie hatte die ferne Geliebte lange nicht gesehen und ihr Herz hatte deshalb schon einige Male trotzig-traurig ausgesetzt. Da sie diese Liebe wollte − zumindest gestand sie sich ein, sie ein ganz klein bisschen zu wollen und eine vorübergehende Verwirrung der Gefühlslage als gegeben und unvermeidlich zu akzeptieren –, schien es an der Zeit, die Geliebte aufzusuchen. Sie wusste nicht, was sich während ihrer Abwesenheit alles in der Hochschule ereignet hatte. So fürchtete sie, der Frau könnte etwas zugestoßen sein, gelbstichig in den Augen und nicht ganz auf der Höhe, wie sie war. Während sie sich, zum Beispiel, horizontal in ihrem Bett befand und die unechte Geliebte sich mit ihr unterhalten musste, litt die echte Geliebte in Wahrheit vielleicht große Qualen. Ihr fiel ein, wie schwer sich jene Frau mit jeder körperlichen Anstrengung tat. Ihr Büro lag erhöht und war nur durch eine steile Treppe erreichbar. Der Verliebten war es nicht entgangen, wie mühselig und heftig atmend die Geliebte die Stufen stets erklommen hatte. Und schon einmal, so erinnerte sie sich, waren ihre Vorlesungen wegen Erkrankung ausgefallen. Nie war es etwas Ernstes gewesen, das eine Mal plagte sie eine Erkältung mit Kopfschmerzen und Übelkeit, das andere Mal war es die Leber, die rebellierte. Trotzdem legte sich ihre Besorgnis nicht. Sie hatte ganz vergessen, wie wenig Zeit ihnen beiden blieb. Früher oder später würde sie allein bleiben; mochte ihr Herz noch so traurig-trotzig klopfen, die Geliebte würde davon nicht mehr zum Leben erwachen − sie war zu spät geboren oder die Geliebte zu früh. Verwirrt fiel sie in die Horizontale, rappelte sich aber gleich wieder auf und band sich die Turnschuhe zu.
Der Weg zur Hochschule wurde ihr lang, und als sie die Schule betrat, kam ihr die bekannte Atmosphäre entgegen, die trotz aller Vertrautheit nichts Vertrauliches mehr für sie besaß. In ihrer Vorstellung hatte sich die Schule in einen romantischen Ort verwandelt, an dem sie unentwegt mit der Geliebten plaudern konnte. Wo aber, fragte sie sich jetzt, sollte sie ihrem übervollen Herzen Luft machen? Etwa zwischen den Gängen da oder auf der Damentoilette? Und wie überhaupt jene Frau einzeln antreffen, ohne dass ihr jemand unverhofft in die Quere kam? Ihr Mut sank und mit ihm ihr Kopf, sodass sie die Frau am Pult nicht gleich bemerkte, die sich mit ein paar Käsebrötchen und einer Tasse Tee aus der Kantine versorgt hatte und dabei war, die beschwerliche Treppe hinaufzusteigen. Erst als sie auf den letzten Stufen und schon fast ihren Augen entschwunden war, sah sie ihre Geliebte . „Da bist du ja!“, wollte sie freudig ausrufen, besann sich aber. Jene Frau lebte tatsächlich noch und war nicht tot, sondern schritt sogar recht munter mit Käsebrötchen und Teetasse die oberste Stufe hinauf. Ein Schwall der Erleichterung trug die Verliebte in den Vorlesungssaal. Dieser war bereits gut gefüllt, und sie fand nur noch einen Platz in den mittleren Bankreihen. Neben ihr saß der Schwätzer, der die Nähe der Geliebten schon einige Male gesucht hatte. Sein Gesicht war rund und glatt, wie das eines wohlgenährten Babys, und mit seinen graugrünen Augen beobachtete er die Verliebte, die sich auf der Hochschulbank einrichtete. Sie erwiderte seinen Blick und fand, dass seine Locken hübsch herabfielen. Aber er gehörte weder zu den Stämmigen noch zu den Schlaksigen, sondern war etwas Undefinierbares dazwischen, das sie noch nie sonderlich interessiert hatte. Er sah ihr in die Augen und hielt ihr seine Hand hin.
„Ich heiße Tobias.“
„Nadja.“
Darauf schaute sie zum Podium und wartete auf den Moment, in dem ihre Geliebte erscheinen würde. Gleich würde sie kommen, Brötchen und Teetasse beiseite stellen, ihren Hefter aufschlagen und augenblicklich zu jener Frau werden, die sie so liebte. Sie fand das Leben aufregend, fast zu aufregend, denn ihr Herz hämmerte verdächtig. Nach tagelanger Sehnsucht und Versuchen des Abschüttelns, denen die Geliebte standhaft getrotzt hatte, war sie nun in greifbare Nähe gerückt. Es bedurfte nur eines Rufs zum Pult oder einer auffälligen Bewegung, wie zum Beispiel eines übermäßigen Streckens der Gliedmaßen, und schon würden sich die Augen der Geliebten auf sie richten. Sie blickte sich um und erst jetzt drang in ihr Bewusstsein vor, dass sie sich weder in der Horizontale befand noch träumte, sondern sich in der Wirklichkeit aufhielt, mit anderen Worten: im echten Leben, das sich auf Gängen und Toiletten abspielte oder gleich neben ihr, wo der Gelockte mit erwartungsvollem Blick auf das leere Podium schaute. Sie hatte sich in der Zeit ihrer Abwesenheit von den Menschen entwöhnt und betrachtet den Rummel mit weltfremden Augen. Jene Frau war zwar nicht erkrankt und stand auch nicht mit einem Bein im Grab, wie sie befürchtet hatte, es konnten aber Dinge geschehen sein, die sie träumend verschlafen hatte, Dinge also, die sich ohne ihr Zutun und ihr Wissen ereignet hatten und ganz gut ohne sie auskamen. Sie erkannte mit Erschrecken, dass sie sich nicht nur im realen Leben aufhielt, sondern dass die vergangene Wirklichkeit auch ohne sie stattgefunden hatte. Die Tatsache, dass Wirklichkeit nicht nur dort stattfand, wo sie sich gerade aufhielt, sondern ebenso da herrschte, wo sie sich gerade nicht aufhielt, löste bei ihr ein Gefühl der Verzagtheit aus. Die Welt teilte sich für sie in zwei Wirklichkeiten: In der einen lebte sie ganz allein, da gab es ihre Fantasien, ihre Wahrheiten und eine himmlische Freiheit, die sie als eine angeborene Gabe ansah; und es gab die andere Wirklichkeit, die Welt der Frau am Pult, die sie kaum kannte, von der sie aber fürchtete, dass sie unerreichbar bliebe. Ein leiser Seufzer drang aus ihrem Mund, der auch ihrem Nachbar nicht entging. Er wandte seinen Blick vom leeren Podium ab und schaute sie an. Sogleich begann er ein Gespräch, das man seiner etwas behäbigen Gestalt nicht zugetraut hätte. An sich mochte sie Menschen, die sorglos drauflos plapperten, doch nun, da sie mutlos war und mit hängendem Kopf dasaß, ging ihr das Geschwätz auf die Nerven. Aus Höflichkeit nickte sie ein paarmal, hatte aber eher Lust, ihm die Zunge herauszustrecken. Plötzlich hielt er inne. Die Tür hatte sich geöffnet, und herein trat jene Frau mit angebissenem Käsebrötchen und Teetasse. Es wurde still im Saal, und die Verliebte hob scheu ihren Kopf. Da war sie! Es durchrieselte sie kalt. Jene stellte nach einer kurzen Begrüßung die Tasse neben das Pult, schlug den Hefter auf und begann ohne Umschweife. Die ersten zehn Minuten gingen in wissenschaftlichem Ernst vorüber. Die Frau dozierte aus dem Hefter heraus, sprach schnell und übersprudelnd und verschärfte ihren Blick auf das Wissenschaftliche, indem sie die von der Nase rutschende Brille hochschob. Sie gab eine gute Figur ab, besaß Witz und Schmackes in ihren Formulierungen − bis das gefallsüchtige Weib wie ein Gewitter aus ihr herausbrach. Mit einem koketten Augenaufschlag hob sie ihren Blick, nahm die Brille ab, sodass das Wissenschaftliche vor ihr verschwamm und unleserlich wurde. Was folgte, waren Schilderungen kleinerer Begebenheiten, denen die Studentenschaft ebenso gebannt lauschte wie dem Wissenschaftlichen. Diesmal wurden, wie so oft, Ereignisse aus ihrem Eheleben zum Vortrag gebracht.
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