Jetzt hieß es das Beste aus der Situation machen, ermahnte sie sich, vor allem, sich still zu verhalten, damit jene nicht bemerkte, dass sich jemand neben ihr befand. Sie schaute zu, wie sich die Hose auf der Nachbartoilette wieder entfaltete, hörte die Spülung und das Entriegeln des Türschlosses und schließlich die Schritte zum Waschbecken. Das wäre ihr Moment gewesen! Ihr Kopf sank erneut auf den Fliesenboden und ihr leerer Blick ging zum Toilettenbecken, auf dem jene gerade noch gesessen hatte. Dann bemerkte sie etwas, das ihren Blick sofort belebte und sie für den verpatzen Auftritt entschädigte: Die Frau am Pult hatte ihr schwarzes Tuch mit den weißen Punkten liegen gelassen, es lag unweit des Toilettenbeckens und konnte mit einem Griff von ihr mühelos erreicht werden. Ihr war, als hätte das Schicksal doch ein gnädiges Auge auf sie geworfen. Sie langte durch den Spalt und angelte sich das kostbare Souvenir. Vor Aufregung und Freude verspürte sie einen erneuten Drang im Unterleib. Rasch stopfte sie das Tuch in die Hosentasche und verhielt sich still. Spätestens, wenn jene in den Spiegel schaute, musste sie das Fehlen des Tuchs bemerken. Sie hörte auch schon Schritte, die sich wieder in Richtung Toilette bewegten. Jene schaute sich um. Ihr stockte erneut der Atem. Sollte sich die andere jetzt bücken, war sie für immer verloren. Die Frau bückte sich aber nicht, sondern verschwand mit einem Seufzer. Als die Tür ins Schloss fiel, erhob sie sich erleichtert. Bei so viel Abenteuer und Aufregung wurde ihr ganz übel. Sie konnte kaum glauben, was eben geschehen war. Zum Beweis zog sie das Tuch aus der Hosentasche und roch an der fantastischen Beute. Plan hin oder her, sie hatte etwas viel Besseres, wie sie fand. Dieses Tuch gab ihr die Sicherheit zurück. Sie wollte für heute Schluss machen, denn das alles bot Stoff für tagelange Aufenthalte im Bett.
Die Vorlesung hatte bereits begonnen. Sie lief die leeren Gänge entlang, über die große schwarz-weiße Marmorhaupttreppe hinweg, bis sie stehen blieb und überlegend zurückschaute. Es wurde gelehrt, diskutiert und geschrieben, da wollte auch sie nicht fehlen. Sie ging zurück und öffnete die Tür des Vorlesungssaals. Obwohl sie alle Blicke trafen, und besonders der von jener am Pult, die Unterbrechungen ganz und gar nicht schätzte, hielt sie ihren Kopf sehr hoch und quetschte sich umständlich zu einer der vordersten Reihen durch. Dort legte sie ihre Mappe ab, schraubte ihren Füller auf und hustete stark. Jene war nicht in unmittelbarer Nähe, aber immerhin in der Nähe. Sie fand, dass alles noch an diesem Tag zu einem guten Ende gekommen war und dass es der Fehler der meisten Menschen war, sich entweder auf den Zufall zu verlassen oder auf einen Plan. Aber nur beides, Zufall und Plan, ergab den Erfolg. Dabei griff sie nach dem schwarzen Tuch mit den weißen Punkten in ihrer Tasche und schrieb vergnügt die Worte der Wissenschaft in ihren Hefter.
An den folgenden drei Tagen hielt sie sich im Bett auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete die Decke, an der ein kleiner schwarzer Lampenschirm hing. Der erste Tag stand ganz unter dem Zeichen der Verarbeitung des erlebten Geschehens. Häufig nahm sie das kostbare Tuch zu Hilfe, um sich genau an alles zu erinnern. Sie wusste noch nicht, welchen Platz dieser Schatz in ihrem Leben einnehmen sollte; aber es musste ein sehr besonderer sein, jederzeit griffbereit und doch für andere nicht sichtbar. Zurzeit lag das Tuch unter ihrem Kopfkissen, von wo sie es des Öfteren hervorholte und es sich auf die Augen und auch schon mal dicht an den Unterleib legte. Jedes Mal duftete es anders, und es schien ihr Geheimnisse zu beherbergen, die sich ihr bald öffnen würden. Dabei schwebte ein Wort vor ihr her; es flog federleicht, nahm einen eleganten Bogen, als die Wand nahte, glitt hinauf und hinab und landete, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, sacht auf ihrer Stirn. Dort brannte sich das Wort ein, wurde heiß und floss über ihren ganzen Körper. Sie holte das Tuch hervor und roch daran. Das Wort hing in klaren Lettern vor ihrem geistigen Auge. Sie erhob sich und betrachtete das Stück Stoff eingehend, von dem magische Kräfte auszugehen schienen, denn jene Frau war nicht mehr einfach die Frau am Pult, sondern wurde die Geliebte. Ebendieses Wort stand in beschwingten Schriftzeichen vor ihr. Sie rieb sich mit den Fingern nachdenklich die Stirn und begriff auf einmal, dass, wenn jene eine Geliebte für sie wurde, sie eine Verliebte war. Das Tuch war ihr nicht geheuer. Sie hatte es ergattert, was sie nicht als besonderes Kunststück ansah, da es direkt vor ihren Füßen gelegen hatte. Es hatte sich ihr quasi angeboten, oder hatte es jene gar extra für sie fallen gelassen? Die Vorstellung beunruhigte sie. Am Ende war sie nicht so unbeobachtet gewesen, wie sie gedacht hatte. Sie roch noch einmal an dem Tuch, ein schwerer, blumiger Duft stieg ihr in die Nase, der sie ganz benebelte. Unwillig knüllte sie das Ding zusammen und warf den Fetzen in die Ecke. Das Wort „Geliebte“ sollte ihr nie mehr über die Lippen kommen.
Im Grunde hatte sie an der Hochschule nicht viel von jener gesehen, gestand sie sich ein, nachdem sie die letzten Ereignisse gründlich durchdacht hatte. Sie wusste nicht einmal, ob jene ihre weißen, flachen Schuhe getragen hatte. Fragen bohrten. Sie stellte zahlreiche Betrachtungen hinsichtlich ihres Lebenswandels an, und erkannte, dass sie das ein oder andere Mal den Bogen reichlich überspannt hatte. So war zum Beispiel das mutwillige Verwechseln der Namen ihrer Beischläfer, trotz der Absicht, damit ihre mütterlichen Instinkte zu bezwingen, grausam und unangebracht gewesen. Sie hätte die Rohheit ihres Handelns bemerken müssen. Zu ihrer großen Beunruhigung fiel die Häufigkeit solcher Lieblosigkeiten nicht gering aus. War sie durch ihre mütterlichen Instinkte von großer Wärme, konnte das Flatterhafte, mit dem sie ihr Leben bisher betrieben hatte, für den anderen verletzend sein. Nie hatte sie sich darum gekümmert, was aus einem Beischläfer wurde, nachdem sie ihm, sich träge schlafend stellend, die Tür gewiesen hatte. Im Sinne einer höheren Gerechtigkeit glaubte sie, eine solche Liebe, wie die zu jener Frau, verdient zu haben. Das war die Strafe für begangene Grausamkeiten.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, zog sie sich die Decke über den Kopf. Dunkle Punkte bewegten sich vor ihren Augen, und sie wurde in eine Welt getragen, die sie die unheimliche nannte. Dort kannte sie sich gut aus. Schon als Kind hatte sie, zwar nur für Minuten, manchmal gar für Sekunden, eine Panik verspürt, die sie aus allem herausschleuderte und sie in eine Welt versetzte, die einem tiefen Schlund glich, in dem sie ganz verschwinden konnte. Das Gefühl, einfach zu vergehen und nicht mehr auf dieser Welt zu sein, hatte sie immer in regelrechtes Grauen gestürzt. Sie sträubte sich gegen die Vorstellung, nicht mehr vorhanden zu sein und dass es etwas gab, das die Macht hatte, sie aus allem herauszunehmen und über ihr Schicksal zu bestimmen. Als Kind ging sie in solchen Momenten zu ihrer Mutter. Deren Wärme beruhigte ihre Ängste, und sie fühlte Trost, der sie mit der Mutter eins werden ließ. Später kamen diese Zustände seltener vor und verschwanden sogar vorübergehend, als sie zum ersten Mal den Stämmigen umarmte und, sich schlafend stellend, seinem Atem lauschte.
In den letzten Jahren hatte sie im Traum manchmal einen tiefen Abgrund gesehen. Jetzt schloss sie die Fenster, dunkelte die Räume ab, legte sich bewegungslos auf den Rücken und wartete ab, bis sich die Schwere verzog und der Abgrund sich schloss. In dieser Stimmung, in der sie nichts mit sich anfangen konnte, außer still zu liegen, kamen ihr Zweifel, ob ihr zynisches Verhalten gegenüber dem Menschlichen und das eingetretene Ereignis wirklich in einem Sinnzusammenhang standen. Denn wenn dem so war, bedeutete es, dass die höhere Gerechtigkeit ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie wollte das nicht sofort abstreiten, betrachtete diesen Einfall aber mit Skepsis, da sie bei Lichte besehen nichts Hervorragendes an sich finden konnte und sogar glaubte, dass in ihrem Fall das Höhere schlief. Sie rieb sich die Augen; und eine Erschöpfung war ihr anzumerken, die die Ereignisse der letzten Wochen mit sich gebracht hatten. Alles war in Aufruhr und sträubte sich.
Читать дальше