Es dauerte nicht lang, und sie fand eine weitere Erklärung, die die Ereignislosigkeit in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Von jeher hatte sie die Neigung gehabt, an das Schicksalhafte und Vorbestimmte zu glauben, umso mehr, wenn es dabei um die großen Gefühle handelte. Wenn das bedeutende Ereignis sich nicht einstellen wollte, dachte sie, musste es sich ohne ihr Wissen bereits ereignet haben. So war es überhaupt zu erklären, dass es sie von der Lauheit fortzog. Sie fand auf einmal, dass sie bisher nicht schlecht damit gelebt hatte. Die wechselnden Beischläfer verschafften ihrem Leben eine Abwechslung und Farbigkeit, um die andere sie beneideten. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie sich auf einmal nach dem Großen und Ganzen sehnte, außer die, dass die schicksalhafte Liebe sie bereits unbewusst gestreift haben musste: Sie war es, die ihr eine Unzufriedenheit eingab; sie war es, die ihr ganzes Dasein in einem trüben Licht erschienen ließ, sie herausforderte und sie glauben machte, Dinge tun zu müssen, die alles Vorherige auf den Kopf stellten.
Um der Sache näher auf den Grund zu gehen, nahm sie in den nächsten Tagen besonders die Hochschule ins Visier. Dabei kam es zu einer Begegnung, die sie stutzig machte. Ihre Verwunderung vergrößerte sich noch, als ihr Herz zu klopfen begann, obwohl sich weder Schlaksige noch Stämmige in ihrer Nähe aufhielten. Ihr fiel ein, dass sie sich schon einmal in ausschließlich weiblicher Umgebung aufgehalten hatte, als das Herz ähnliche Klopfzeichen von sich gab. Das Ganze war verwirrend. Das Herz fing an zu klopfen, wo es gar nicht klopfen sollte. Sie bemühte sich, das aufkommende Unbehagen zu unterdrücken, ertappte sich aber dabei, wie ihre Augen über ihresgleichen zu gleiten begannen. Der unerwartete Vorfall förderte gleich mehrere Erinnerungen zutage: Einmal, auf einer kleinen Feier, war sie von einer Brünetten aus dem Augenwinkel beobachtet worden. Indessen sich die anderen amüsierten, verhielt diese sich still und zwinkerte ihr mit einem kurzen Lächeln zu. Später am Abend war die eindeutige Aufforderung, die in ihrem Blick stand, nicht mehr zu übersehen. Die Brünette kam auf sie zu und erwies sich Stunden später als erfahrene und gescheite Liebhaberin. Was das Weibliche anbelangte, war sie seitdem nicht mehr ganz unbeleckt, und hin und wieder wiederholten sich solche Begegnungen. Nun lag sie aber schon eine ganze Weile am rechten Ufer und wollte da auch bleiben, weil sich das Weibliche als weit komplizierter und anstrengender herausgestellt hatte als das Männliche, das zuweilen von einer Schlichtheit war, die sie bewunderte. Deshalb erinnerte sie sich nur noch schwach an ihre Abstecher zur anderen Seite, und das Unbehagen, einer solchen Liebe wieder zu begegnen, war groß.
Um das Herz nicht weiter zu reizen, vermied sie den Gang zur Hochschule für ein paar Tage. Sie hielt es für das Vorteilhafteste, die nächsten Tage im Bett zu verbringen, und ließ den Gedanken freien Lauf. Ihr fiel auf, dass sie seit einiger Zeit immer das gleiche Seminar besucht, aber ihren Blick nicht, wie üblich, hatte schweifen lassen, sondern ihn fortwährend zum Podium gerichtet hatte. Die Anspannung und das starke Herzklopfen, die sie dabei verspürt hatte, waren erst zur Ruhe gekommen, als jene Person das Podium verlassen hatte. Daraufhin war sie stets eigenartig traurig geworden, hatte auf den verwaisten Raum da vorn geblickt, und ihr Magen war von einer leichten Übelkeit befallen worden. Anschließend war unausweichlich ein Gang auf die Toilette gefolgt, um sich von der Aufregung zu erholen und allein zu sein. Als ihr das plötzlich klar zu Bewusstsein kam, schreckte sie hoch und stellte sich augenblicklich auf ihre zwei Füße. Ein Schwindelanfall benebelte sie, und die Ohren begannen zu klingeln. Sie fiel rückwärts ins Bett und zog sich das Kissen über den Kopf. Allmählich beruhigte sie sich. Noch hoffte sie, dass ein Missverständnis vorlag. Nichts war geschehen, jedenfalls fast nichts. Sie hatte nur überpünktlich, was sonst nicht ihre Art war, den Seminarraum betreten, worauf ihr Herz stark zu schlagen begonnen hatte, das sich noch verstärkt hatte, als jene Frau am Pult erschien. Den Vorgang musste sie zwar in seiner Bedeutung akzeptieren, andererseits aber nicht als unabwendbar hinnehmen. Sie wollte in den nächsten Tagen erst einmal still sitzen bleiben und den Anblick der Frau am Pult vorerst vermeiden; und sie hoffte, dass sich damit die ungewollte Aufwallung ihre Gefühle von ganz allein verzog. Sie atmete auf. Der Druck ließ langsam nach, und sie schlief ein. Nach drei Tagen erhob sie sich. Trotz des erholsamen Schlafs wurde sie von einem starken Zittern und Schütteln überrascht. Zudem fühlte sie sich beim Gang zur Toilette eigenartig wacklig und auch der Kopf vernebelte sich vollständig. Sie kannte diese Anzeichen noch gut. Immer, bevor der Stämmige zu Besuch erschienen war, hatte sie eine starke Übelkeit überfallen, die manchmal eine Traurigkeit nach sich zog, woraufhin sie sich ins Bett legte und nur noch schwach die Lippen bewegen konnte. Ihre Übelkeit war aus diesem Grund verdächtig und ließ das Schlimmste vermuten, wie etwa, dass sich ihr Herz schon hoffnungslos weit von ihr entfernt hatte und sie geschüttelt wurde, wo sie nicht geschüttelt werden wollte. Sie machte sich Vorwürfe, leichtsinnig gewesen zu sein, und wollte den Vorfall näher untersuchen. Noch wusste sie nicht, ob ihre Übelkeit tatsächlich von der Frau am Pult herrührte. Möglich war auch, dass sie sich nur sehr schwach fühlte. Am nächsten Tag machte sie sich, trotz zunehmender Übelkeit, früh auf den Weg zur Hochschule und betrat überpünktlich den noch leeren Vorlesungssaal. Sie setzte sich in die vorderste Reihe und hoffte, alles sehr genau im Blick zu haben. Die Übelkeit ließ daraufhin nach und auch der völlig vernebelte Kopf erhielt eine angenehme Kühlung. Sie fühlte sich wohl und wartete. Jene Frau kam erst spät, was bei ihr keine Ausnahme war. Dafür schlug sie ohne Umschweife ihren Hefter auf und begann mit leichtem Hüftschwung die Vorlesung. Jetzt fühlte sie den entscheidenden Moment gekommen, um Klarheit zu erhalten. Dazu brauchte sie nur ihren Blick zu heben und ihn geradewegs auf jene Frau vorn am Pult zu richten. Nach anfänglichem Zögern und einem starken Klopfen in der Herzgegend gelang ihr dies auch. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen länger geradeaus zu richten, sie rutschten stets in eine Schieflage. Sehr rasch senkte sie daraufhin den Blick, und die Augen glitten wieder in ihre natürliche Stellung zurück. Erschrocken wagte sie nicht mehr, aufzuschauen. Es gab keinen Zweifel, jene Vortragende am Pult war nicht irgendeine Frau. Sie war es, die ihren Körper in den wohlbekannten Zustand versetzte, der sich in den nächsten Wochen, ähnlich wie bei dem Stämmigen, noch verschlimmern konnte.
Noch weigerte sie sich, daran zu glauben: Es könnte hier eine sehr selten auftretende Parallelität der Geschehnisse vorliegen, tröstete sie sich. Während sie auf der Hochschulbank saß und ihre Augen unglücklich wegrutschten, konnte sie am anderen Ende des Hochschulgebäudes bereits ungeduldig von dem großen Ereignis erwartet werden. Sie ermahnte sich, den Kopf oben zu behalten, und hob ihn auch tatsächlich, wodurch ihre Augen erneut in eine Schieflage zueinander gerieten. Sie bedeckte die verrutschten Augen mit den Händen. Sie wollte weinen, und die ersten Tropfen fielen ihr schon aus den Augen. Eine Vorahnung sagte ihr, dass all ihre Befürchtungen sich bewahrheiten würden und ihre ungewollte Verliebtheit ein schicksalhaftes Ereignis war, das ihr Leben völlig verändern sollte, ohne das sie die Richtung gekannt hätte. Ihre Ängste vergrößerten sich noch, als ihr einfiel, dass sie jener Frau da vorn schon einmal begegnet war. Bevor sie die Hochschule besuchen durfte, hatte sie sich im Frühjahr einer Prüfung unterziehen müssen, bei der man sie drehte und wendete und nach allen Seiten hin abklopfte. Jene war damals die Zweite von links gewesen. Vergeblich suchte sie jetzt nach kleinen versteckten Hinweisen, wie etwa ein bestimmtes Zwinkern der Augen oder eine bevorzugte Behandlung, an denen sie das Kommende hätte ablesen können. Trotz intensiven Erinnerns ergab sich nichts. Sie wischte sich die Tränen weg, hob ihren Kopf, vermied aber den Blick auf die Frau am Pult. Sie schaute auf die Uhr und erschrak, denn seit dem Auftritt jener Frau war noch keine halbe Stunde vergangen. Sie hatte demnach nicht einmal die Hälfte geschafft und befand sich in der vordersten Reihe, von der ein leichter Abgang unmöglich war.
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