Sie zwang sich nachzudenken, obwohl die Gedanken ähnlich wie die Augen außer Kontrolle gerieten. Ob sich das Große und Ganze mit dem Blick auf jene Frau da vorn wirklich ereignet hatte, war nur die eine Seite, viel wichtiger war, was sie daraus machen würde. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten, die sie genau ins Auge fassen wollte. Sie könnte versuchen, das Ereignis mit der Frau am Pult einfach auszusitzen. Niemand konnte von ihr verlangen, alles zu akzeptieren. Aber wenn jene da vorn wirklich das große Ereignis war, so fand sie die Frage falsch gestellt, denn nicht, was sie daraus machen würde, war entscheidend, sondern was das Ereignis aus ihr machen würde. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, schrumpften ihre Möglichkeiten, den aufwallenden Gefühlen etwas entgegenzusetzen, gen null.
Dieser Gedanke ließ ihr erneut Tränen in die Augen schießen, jedoch raffte sie sich hoch, und ein überraschender Perspektivwechsel, der sich manchmal bei ihr einstellte, wenn es unangenehmen Dingen auszuweichen galt, entwirrte alles aufs Simpelste: Betrachtete sie die Dinge auf eine Weise, dass ihr Entschluss am Morgen ihres achtundzwanzigsten Geburtstages nicht mehr als eine fixe Idee war und nur aus dem Wunsch resultierte, ihrem Leben Sinn und Tiefgang zu geben, so gab es keine schicksalhafte Liebe mehr und erst recht kein großes Ereignis; alles war aus dem Übereifer des Geistes und einer vorübergehenden Übersättigung erklärbar. Was sie demnach tun musste, war, ihre Einstellung zu ändern, indem sie an kein Schicksal mehr glaubte, und zwischen ihrer fixen Idee am Geburtstagsmorgen und ihrer plötzlichen Liebe zu jener Frau da vorn bestand nur eine kuriose zeitliche Überschneidung. Die Freude über die unerwartete Klarheit ihrer Gedanken war groß und versetzte sie für Sekunden in die Lage, den Blick geradeaus nach vorn zu richten. Doch sogleich fühlte sie etwas Unangenehmes, etwas, das sie gut kannte und das sie für alle Zeit überwunden haben wollte. Ihr Leben wurde augenblicklich klein, grau und unbedeutend. Nichts spulte sich an einem roten Faden ab, den sie zwar nicht selbst in der Hand hielt, der aber wenigstens, so hoffte sie, irgendwo in einer Hand gehalten wurde. Sie musste zugeben, dass das Auftreten der Frau am Pult immerhin alles in einen geordneten und bedeutsamen Sinnzusammenhang brachte: Sie hatte unter der Bettdecke von einem neuen Leben geträumt, und prompt stand jene Frau schicksalhaft vor ihr. Noch ratlos und mit dem dumpfen Gefühl, Teilchen in einem seltsamen Geschehen zu sein, entschloss sie sich, das Phänomen als Merkwürdigkeit zu akzeptieren, für die sie noch keine rechte Erklärung fand.
Mit Erleichterung, die Vorlesung überstanden zu haben, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Hier hatte sie Ruhe, und auch das stark hämmernde Herz konnte verschnaufen. Sie legte sich ins Bett und zog sich die Decke über die Ohren. Mehrere Stunden lang schlief sie tief. Als sie wieder erwachte, verwirrte sich alles aufs Neue. Sehr weit von ihr entfernt gab es eine Hochschule, und die Frau am Pult schwamm unklar durch ihr Bewusstsein. Noch im Nebel ihrer Gedanken stochernd, blickte sie auf den Fußboden, auf dem ihre knöchelhohen Stoffturnschuhe lagen und die Schulsachen. Die Wirklichkeit blendete sich unbarmherzig ein. Sie wollte vergessen, vor allem jene da vorn am Pult. Im Vergessen war sie außerordentlich geübt und konnte sich sogar vornehmen, Dinge völlig aus ihrer Erinnerung zu streichen. Diese Manipulation des Gehirns ersparte ihr häufig ein schlechtes Gewissen. Nach weiteren Stunden Schlaf, die traumlos verliefen, erwachte sie mit dem Verlangen, sich sofort ihre Turnschuhe anzuziehen und die Hochschulbank aufzusuchen. Sie musste zugeben, dass ihr das Vergessen noch einige Mühe bereitete, und auch der Gang zur Hochschule, den sie sofort nach dem Aufstehen antrat, war kein gutes Zeichen, aber sie wollte ja nicht mehr als nach dem Rechten schauen; liefe ihr dabei jene Frau über den Weg, dann wäre das rein zufällig und keineswegs geplant.
Diesmal setzte sie sich, als sie in der Hochschule ankam, in eine der hintersten Reihen, um im Notfall unbemerkt durch die Tür entkommen zu können. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als nützlich. Als die Frau am Pult erschien, stellten sich rasch wieder die gleichen Symptome ein. Sie verließ daraufhin den Saal und kehrte mit wackligen Knien, doch mit einem klaren Kopf zurück. Entschlossen, die Frau unter die Lupe zu nehmen, schaute sie nach vorn und bemerkte den kokettierenden Hüftschwung, zu dem jene häufig mitten im Satz ausholte. Dazu hob sie ihren Zeigefinger in die Höhe, wenn ihr ein Wort besonders wichtig schien. Dieser Finger war lang und ein sehr fraulicher, lief spitz nach oben zu und konnte, wenn sie es wollte, schmerzhaft pieken. Sie hatte diesen Finger, der außerdem sehr gerade war und zu einer hübschen Hand gehörte, schon mehrmals aus der Ferne, von der Hochschulbank aus bewundert und sich vorgestellt, wie er sich auf sie richtete und sie aufforderte, vor das Podium zu treten.
Sie wollte der Frau am Pult nahe kommen, so nahe, dass diese auf das rein Menschliche schrumpfen würde. Sie wusste aus Erfahrung, dass ein allzu großer Abstand vom geliebten Objekt geeignet war, eine übergroße Sehnsucht hervorzurufen, die alles verklärte. Eine konkrete Nähe hingegen konnte den Blick nüchterner machen. Makel und Schwächen wurden erkannt, die die Ferne bislang gnädig verborgen hatte. Bei ihren bisherigen Lieben war das der Fall gewesen. Ein tieferes Kennenlernen ließ die Gefühle schnell abflauen, und das Bedeutsame und eben noch so Heiße wurde bald kümmerlich. Nur einmal, eben bei dem Stämmigen, dem sie einen Knopf angenäht hatte, hatte sie bei näherer Bekanntschaft keine Enttäuschung gefühlt, sondern eine Anregung des Körpers und des Kopfes, die sie neue Erfahrungen machen ließ, wie etwa, dass sie zum ersten Mal eine Vollkommenheit spürte, als er ihr im Bett eine Geschichte vorlas und wenige Augenblicke später darüber einschlief.
Ihre Gedanken kreisten um einen passenden Rahmen für eine Begegnung mit jener, ihr fiel jedoch nichts ein. Gleich nach der Vorlesung erhob sie sich und verließ den Vorlesungssaal. Sie ging zur Damentoilette der Hochschule und verriegelte die Tür hinter sich. Recht erschöpft sank sie aufs Becken. Sie fühlte sich müde, eigentlich viel zu müde, um der bevorstehenden Aufgabe noch gewachsen zu sein. Die Begutachtung der Frau am Pult zu vertagen, bis sie wieder zu Kräften gekommen war, kam ihr angebracht vor. Einmal nur noch wollte sie die Decke über den Kopf ziehen und sich darunter sammeln. Im Bett kamen ihr immer die besten Gedanken. Zugleich wollte sie vermeiden, sich weiter in die Einzelheiten der Begegnung zu vertiefen. Ein zügiges Drauflosgehen konnte eher den gewünschten Erfolg erzielen. Da die Erschöpfung nicht vor ihr wich und sogar eine Verwirrung hinzukam, verbrachte sie einige Zeit auf der Toilette. Die nächsten Vorlesungen hatten bereits begonnen, doch sie schlug nicht den Gang zum Vorlesungssaal ein, sondern ging nach Hause und legte sich ins Bett, wo ihre Gedanken zu kreisen anfingen. Sie begann damit, den Ort ihrer Begegnung genau festzulegen. Das hatte den Vorteil, der Frau nicht urplötzlich begegnen zu müssen. Den Platz dafür fand sie rasch: Die Toilette der Hochschule hatte sich schon für ihre Grübelei als geeignet erwiesen. Angesichts der Art ihrer Liebe kam ihr dieser Ort für eine baldige Begegnung sogar sehr wahrscheinlich vor. Sie musste nur aufmerksam den Zeitpunkt des Verschwindens jener Frau zur Toilette abpassen, ihr dann folgen und sie rechtzeitig abfangen, bevor sie die Toilette wieder verließ. Die nächste Schwierigkeit, die darauf folgte, war, sich die Art und Weise ihres Zusammentreffens vorzustellen. Um keinen Verdacht zu erregen, durfte sie sich nicht einfach nur hinstellen und warten, sondern musste vorgeben, sich am Becken die Hände zu waschen. Wenn jene Frau schließlich von der Toilette käme, bliebe ihr nichts anderes übrig, als sich unmittelbar in ihrer Nähe aufzuhalten und auf das Freiwerden des Beckens zu warten. Dann wäre ihr Moment gekommen! Sie würde sich umdrehen und ihr direkt in die Augen schauen. Das alles durfte nur eine kurze Weile beanspruchen, musste aber ausreichend sein, um sich ein Bild zu machen. Sie war zufrieden und wollte einschlafen, aber alles, was ihr gelang, war ein unruhiges Wälzen. Kleinere Zwischenfälle kamen ihr in den Sinn, die sich ereignen könnten. Es war gut möglich, dass irgendjemand im unpassenden Moment hereinschneite, sich zwischen sie drängelte, und ihr den Blick auf die Frau verstellte, oder die Augen könnten ihr wegrutschten, sodass sie nichts mehr erkennen konnte und sich rasch durch die Tür verabschieden musste.
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