Das tagelange Im-Bett-Liegen hatte Spuren hinterlassen. Ihr Haushalt, der stets Anzeichen der Vernachlässigung zeigte, begann völlig zu verwahrlosen, und es schien notwendig, hin und wieder vor die Tür zu treten. Außerdem war es an der Zeit, sich wieder einmal bei der Mutter zu melden. Die Erkundigungen der Mutter nach ihr erfolgten häufig zum ungeeigneten Zeitpunkt, waren dafür aber frei von aufdringlicher Neugier. Zudem wurde sie zärtlich geliebt, was eine Fürsorge mit einschloss, die ihrem leichtfertigen Lebenswandel ungewollt unter die Arme griff. Als bemittelte Frau ließ die Mutter monatlich reichlich Geld auf das Konto ihrer Tochter fließen, was es dieser erlaubte, die Nase hier und da hineinzustecken. Dass der Geldhahn einmal abgedreht würde, war nicht abzusehen. In letzter Zeit kam es jedoch vor, dass sie beim Ausgeben des mütterlichen Geldes das Gewissen zwickte. Obwohl es nicht besonders heftig auf sich aufmerksam machte, führte das Zwicken dazu, dass sie die sonst so locker sitzenden Scheine des Öfteren in der Tasche behielt. Diese Maßnahme verminderte ihr Unbehagen, änderte aber nichts daran, dass sie mit achtundzwanzig Jahren der Mutter auf der Tasche lag. Sie selbst sah darin eine Verwöhnung und, wenn sie erst spät am Morgen aus den Federn fand und den Tag vertrödelte, sogar eine falsche Großzügigkeit. Für die Mutter war sie jedoch das Kind, welches sich zwar spät entschloss, etwas zu werden, aus dem aber noch alles werden konnte. Manchmal hatte sie sich schon vorgenommen, die Mutter von diesem Irrtum zu befreien und ihr zu gestehen, dass sie für das Geschäftige und Ambitionierte nicht geschaffen war. Doch die Verschiedenheit zwischen Mutter und Tochter führte nie zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Als Tochter verfügte sie über Eigenschaften, die die Mutter im Mann suchte. Sie erinnerte sich, dass die Mutter, wenn sie von ihren weiten Reisen zurückkam, häufig Bekanntschaften geschlossen hatte, die in ihrer Ähnlichkeit verblüfften. All ihre Männer redeten wenig, waren etwas langsam in ihren Bewegungen, mochten das Behagliche und lagen gern im Bett. Andererseits wiesen Mutter und Tochter auch einige Ähnlichkeiten auf: Gleich ihrer Tochter zeigte die Mutter einen häuslichen Instinkt gegenüber dem Männlichen, nur dass sie diesen nie bezwingen wollte; ihm stattdessen freien Lauf lassend, servierte sie ihrem Beischläfer am nächsten Morgen den Kaffee und sah in dieser Fürsorge eine Dankbarkeit, die ihr als Beglückte angemessen erschien. Die Namen ihrer Beischläfer mutwillig zu verwechseln, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Es bedurfte sogar einer Schonung des Mannes und besonderer Zuneigung am Morgen, denn als Frau hatte sie empfangen, ihr floss zu, was dieser gab.
Sie nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Mutter, doch dann fiel ihr ein, dass der Mutter ihre veränderte Stimmung am Telefon nicht verborgen bleiben würde. Daher legte sie den Hörer wieder auf und hoffte, dass sich die Mutter von allein melden oder gleich selbst vor der Tür stehen würde. Sie blickte von ihrem Fenster aus in einen feucht-herbstlichen Himmel, der an diesem Tag eine starke Grautönung aufwies. Mit ihm kam das abstruse Gefühl, in eine große Tiefe zu stürzen; und sie wäre noch tiefer versunken, hätte sie nicht das Telefon hochgeschreckt. Sie wollte aufstehen, doch etwas hielt sie zurück. Wenn sie den Hörer abnahm und tatsächlich die mütterliche Stimme hörte, dann wäre es entschieden; sie würde ihr alles erzählen. Schon lange verspürte sie den Drang, zu reden, zweifelte jedoch, ob der mütterliche Schoß sie wirklich tröstend aufnehmen würde, wie sie es hoffte. Schlimmstenfalls könnte alles in eine andere, sogar in die entgegengesetzte Richtung laufen. Vielleicht fühlte sich die Mutter durch ihre Erzählungen vor den Kopf gestoßen, was sie unfähig machen würde, ihr den nötigen Trost zu spenden. Die Mutter war zwar von der Tochter nicht mehr allzu leicht in Schock zu versetzen, aber dies hier, die Liebe zu jener nicht mehr Taufrischen, wäre eine harte Probe. So blieb die Mutter verschont und das Telefon läutete vergeblich.
Nachdem das Läuten verstummt war, hing sie schlapp im Sessel, wo sie die Gliedmaßen von sich streckte und über die Lauheit nachsann. Sie vermutete, dass der Mensch nur bedingt für die große Aufregung geschaffen war. Zwar brachten die Gefühle, die so heftig wie kurzweilig waren, das Gleichgewicht des Menschen ins Schwanken, schafften es jedoch nicht, sein grundlegendes Naturell, das Mittelmaß und die Vernunft, aus den Fugen zu heben. Selbst bei der heftigsten Gefühlsregung funktionierte der Mensch noch und hielt sich auf diese Weise unbewusst am Leben. Dieser Gedanke hatte etwas Beruhigendes.
Sie hielt die Gliedmaßen noch eine Weile entspannt, indessen eine heftige Aufwallung verliebter Gefühle herannahte. Die ersten Anzeichen waren noch kaum spürbar. Ein schleichender Stimmungsabfall, wie sie ihn oft erlebte, wenn träge Nachdenklichkeit über sie gekommen war, verwandelte das Laue in eine Übellaunigkeit. Vormals, bei den Schlaksigen und Stämmigen, tonangebend, fürchtete sie zu verkümmern und ging sich selbst schon auf die Nerven. Zum ersten Mal entwickelte sie Regungen, die einem verzweifelten Hass zu jener Frau entsprangen. Die Lauheit der Gefühle war damit beendet; ein schlaffes Herumhängen gab es nicht mehr. Ein Schreck der Erkenntnis durchfuhr sie, der auch die letzte Schlappheit aus ihren Gliedern trieb: Im Grunde wollte sie diese Liebe doch. Während ein Teil von ihr Vorkehrungen traf, die nicht mehr ganz Taufrische abzuschütteln, zog der andere Teil die Frau am Pult zu sich heran. Rücklings ließ sie sich auf das Bett fallen und wurde sich selbst zu kompliziert. Erschöpft fiel sie in einen traumlosen Schlaf, von dem es nichts zu berichten gab, außer dass die Schlafende sich erholte, die heiße Stirn abkühlte und sie ihren Gedanken für kurze Zeit entrinnen konnte.
Mit jener Frau am Pult hatte es ganz und gar nichts Besonderes auf sich. Sie war ebenso Durchschnitt und wurde genauso wenig vom Höheren bedacht wie die Verliebte. Hinzu kam gar eine Reihe wenig einladender Eigenschaften, wie zum Beispiel die Gefallsucht. Selbst an schon recht kühlen Herbsttagen trug sie Kleider mit dünnen Schulterriemchen, die viel von ihrer nicht mehr taufrischen Haut zur Ansicht brachten. Sie wurde auf tragische Weise älter, indem sie das Älterwerden wohl bemerkte, es aber nicht wahrhaben wollte. Voll Schmerz hatte auch die Verliebte das Groteske dieses Älterwerdens bemerkt. Am liebsten hätte sie die Geliebte behutsam zur Seite genommen und sie auf das Gewagte ihrer Garderobe hingewiesen, doch das war unmöglich. Als sich einmal eine Kollegin den Rat erlaubte, ihre Schulter zu bedecken, sah die Geliebte darin eine weibische Eifersüchtelei, die ihr nur bestätigte, dass sie sich in diesem Aufzug noch blicken lassen konnte.
Es lag etwas Mitleiderregendes in dieser Gefallsucht, zudem brachte das Kokettieren jener Frau einen Umgang mit dem Menschlichen hervor, der vor allem aus Scharwenzeln, Schmeicheln und Eitelkeiten bestand. Vorn am Pult zählte nicht das wissenschaftliche Wort, das war sowieso nur Nippes, Kram und sperriges Zeug, mit dem man sich abgab, um zu zeigen, dass man seinen Kopf nicht umsonst mit sich herumtrug; worauf es ankam, waren der Augenaufschlag, der Sitz der Haare, dessen Farbstoff bei ihr schon aus der Tube kam, und das Einstreuen kleiner, privater Episoden in den Lehrvortrag. Durch diese Koketterie und die freizügige Darstellung ihrer Person fühlte sich mancher Student ermutigt, nun ebenfalls aus seinem Leben zu plaudern, musste aber feststellen, dass seine intimen Vorkommnisse bei der Frau am Pult wenig beliebt waren. Der Student habe da wohl etwas falsch verstanden und sei nicht ganz im Bilde, wenn er glaube, er könne so mit ihr schwatzen. Die Betretenheit des so Zurechtgewiesenen war groß. Sie war eine Frau, die hofiert und bewundert werden wollte, aber in respektvollem Abstand. Die Verliebte ahnte von diesen bedrückenden Eigenschaften mehr, als ihr lieb war. Ein Grund dafür, dass sie bisher nicht die Nähe zu jener gesucht hatte, war eine dunkle Ahnung, nur ihrer Eitelkeit schmeicheln zu dürfen und von ihr fallen gelassen zu werden, sobald diese befriedigt war, oder, noch schlimmer, dass sie von ihr einfach mit totem Blick übersehen wurde, weil ihr das Männliche fehlte. Ihre Geliebte lebte nämlich in der guten Ordnung der Dinge, wo sich das Männliche und das Weibliche stets passend ineinanderfügten.
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