Sie hob die Stirn von der Tischplatte und rieb sich die wunde Stelle, die der Aufprall hinterlassen hatte. Verwundert blickte sie um sich und nahm ihre Anwesenheit auf der Hochschulbank wahr. Das aus dem Nichts wiedergewonnene Bewusstsein arbeitete noch unklar und lag noch neben Raum und Zeit. Dann erinnerte sie sich an ihren Namen, und gleich darauf kam ihr der Zustand ihres Herzens zu Bewusstsein, mit allen seinen dazugehörigen Verwicklungen. Sie fühlte sich einem leeren Gefäß ähnlich, das sich nur mit der Geliebten füllen durfte. Sie, die Geliebte, schien zu ihrem eigentlichen Ich zu werden, denn nicht anders konnte sie es sich erklären, dass sich ihr Bewusstsein, das sich gerade aus dem Nichts erhoben hatte, so rasch mit der Geliebten auffüllen konnte. Sie erkannte, wie es um sie stand, erhob sich und trat auf den Gang hinaus, auf dem sich aber nicht die vermutete Wirklichkeit einstellte. Sie war auch hier allein, und kein Laut drang an ihr Ohr. Das studentische Leben hatte sich während ihres Schlafs verflüchtigt. Ratlos und mit einem Anflug hysterischer Verzweiflung machte sie sich klar, dass auch jene Frau sich verflüchtigt haben musste und vermutlich schon auf dem heimischen Sofa saß. Sie rannte den Gang entlang und wünschte sich, irgendetwas möge ihre Geliebte davon abgehalten haben, nach Hause zu gehen. Als sie vor dem Ausgang angelangte, schaute auf die große Uhr, die über der Tür hing. Es war bereits acht Uhr abends. Die Verliebte hatte mehr als fünf Stunden geschlafen. Die Wirkung war niederschmetternd. Die Frau konnte nicht mehr da sein. Mutlos trottete sie die leeren Gänge entlang. Nichts würde sie mehr haben als ihre eigene Wirklichkeit. Aber wozu? Wozu sollte sie nach Hause gehen, sich hinsetzen oder hinlegen? Nichts gab es wirklich, höchstens sie selbst. Sie blieb vor einem Fenster stehen und blickte hinaus. Der Himmel zeigte sich spätherbstlich. „Du“, sprach sie, „du ziehst vorbei, und ich?“ Der Himmel antwortete ihr auf eine Weise, wie sie nur die Verliebte verstehen konnte. Denn als sie das „und ich“ aussprach, war es ihr, als träfe sie ein Strahl zwischen die Augen. Sie senkte schmerzvoll geblendet den Blick. Als sie wieder aufschaute, sah sie nichts mehr. Kein Strahl, kein Glanz, nur ein herbstlicher Sternenhimmel, der sich wenig um sie kümmerte. Für sie aber war etwas Besonderes geschehen, ein himmlisches Zwinkern hatte stattgefunden, das nur ihr galt. Die lebensechte Geliebte war nicht einfach nach Hause gegangen, eben das sagte ihr doch der Himmel. Kurz darauf kamen ihr allerdings Zweifel, ob der Himmel das meinte, was sie verstand. Denn wenn alles eine Bestimmung hatte − so begriff sie das himmlische Zwinkern − , musste jene Frau, berührt von einer übermächtigen Gewalt, noch an der Hochschule sein und darauf warten, dass sich endlich jener Moment einstellen würde, für den sie vorgesehen war. Würde sie jedoch die Geliebte heute nicht mehr finden, wäre diese einfach ahnungslos und hätte, die Verliebte vergessend, bereits auf dem Sofa Platz genommen, dann war alles ein Chaos, und es stand fest, dass es nichts Schicksalhaftes und Bedeutsames gab. Sie fühlte einen großen, erhabenen Moment. So sehr sie sich auch schüttelte, sich mit ihren Füßen auf die Erde stellte, sich zur Nüchternheit zwang, wurde sie doch von einem unwiderstehlichen Drang gepackt, es mit allen Verrücktheiten der Welt aufzunehmen; selbst vor dem Abwegigen und Lächerlichen wollte sie keine Angst mehr haben und erst wieder vernünftig sein, wenn sie ganz sicher war, dass es nichts Himmlisches und Absurdes gab. Denn ihr Leben in Logik, Wahrheit und Ordnung zu verbringen und den Regeln der Welt folgen, obwohl es auf der anderen Seite eine Wahrheit gab, die ganz unlogisch und irrational war, hätte sie sich nie verziehen. Für sie war klar: Sollte es eine Welt jenseits des Rationalen und Realen geben, musste sie sich ihr stellen und dem großen, unerklärlichen Phänomen zeigen, dass sie an sie glaubte.
Sofort machte sich die Verliebte auf die Suche nach der Geliebten. Die Schule hatte neben dem Hauptausgang noch drei weitere, kleinere Ausgänge, durch die die Geliebte jederzeit entschlüpfen konnte. Zudem lagen die Türen in einer Entfernung zueinander, die die Verliebte erst würde überbrücken müssen, sodass die Frau durch eine der verbliebenen Türen verschwinden konnte. Dass ihr jene doch noch entwischen würde, war wahrscheinlich und auch wieder nicht; denn sollte sie das Zwinkern des Himmels richtig verstanden haben, brauchte sie sich nur an eine beliebige Stelle zu begeben, wie zum Beispiel den Kaffeeautomaten vor der Glastür, und ihre Geliebte musste wohl oder übel, schicksalhaft und himmlisch geleitet, die Glastür öffnen. Sie fand, dass ihr Plan Raffinesse besaß, damit würde sie das himmlische Zwinkern auf die Probe stellen und wüsste auch gleich, ob man an höherer Stelle ein Auge auf sie geworfen hatte. Der Platz am Kaffeeautomaten kam ihr zwar für ein Vorhaben, das romantisch und bedeutsam werden sollte, wenig passend vor, doch verband sie mit ihm die Erinnerung an ihr erstes unvermutetes Treffen, das ihr jetzt wie eine Probe für den anstehenden großen Auftritt vorkam. Die Verliebte lehnte sich, nachdem sie ihre Tasche neben den Automaten gestellt hatte, mit der Schulter dagegen und wartete. Durch das milchige Glas würde sie das Herannahen einer Person bereits auf mehrere Meter Entfernung bemerken, sodass sich nichts plötzlich ereignen konnte, wie an jenem Morgen. Zugleich hoffte sie, dass die zwei Wirklichkeiten, die ihre und die jener Frau, sich bald zu einer einzigen zusammenfügen würden, damit sie Hand in Hand mit der Geliebten darin spazieren gehen könnte. Es verging jedoch eine Stunde, ohne dass etwas geschah. Der Blick der Verliebten blieb während dieser Zeit unverwandt auf die kleine weiße Klinke der Glastür gerichtet. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie den kommenden Auftritt noch einmal im Geiste durchging. Vor allem der Anfang war wichtig, ermahnte sie sich. Sie musste schnell erfassen, inwieweit die Frau selbst um den bedeutsamen Moment wusste. War dies der Fall, brauchte sie nichts weiter zu erklären, vielleicht nahm jene sogar von ganz allein ihre Hand und führte sie durch eine neue stattfindende Wirklichkeit. Wusste die Frau aber nichts und hatte Teetasse und Käsebrötchen mit dabei, so musste sie einen Schritt auf die Frau zu machen, sich ihr in den Weg stellen und die Worte sagen, die ihr jetzt noch nicht einfielen. Bei diesen Gedanken fing ihre angelehnte Schulter zu schmerzen an, und der starre Blick auf die Türklinke ermüdete ihre Augen.
Gegen die aufkommende Müdigkeit nahm sie sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten. Während sie trank, fiel Dunkelheit in die Gänge der Hochschule. Das akademische Leben hatte sich nach acht Uhr abends in den Südflügel zurückgezogen, wo es sich bald gänzlich zerstreute. Das Licht wurde ausgeschaltet, und die Verliebte stand im Dunkel. Der Mond zeigte sich am Himmel, und es war ein sehr kleiner Mond. Sein Licht war weder glänzend, noch zwinkerte er, und die Verliebte konnte selbst bei wachsamstem Blick durch das milchige Glas der Tür nichts mehr erkennen. Sie suchte einen Schalter und musste dafür die Tür unbeaufsichtigt lassen. Vorsichtig tastete sie sich nach vorn. Die bei Tageslicht ohnehin schummrigen Gänge waren finster, und zu ihrer Enttäuschung befanden sich dort keine eigenen Schalter. Ihre Augen gewöhnten sich kaum an die Dunkelheit, und sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Mit einem Mal verlor sie völlig die Orientierung und glaubte, vor einer Treppe zu stehen, was ihr aber später, als sie glaubte, vor keiner Treppe zu stehen, zum Verhängnis wurde. Sie verlor den Halt, als ihr Fuß nicht wie erwartet den Boden erreichte. Der Sturz erfolgte von der großen Marmorhaupttreppe, die bis auf wenige Meter an den Eingang heranreichte. Sie fiel halsbrecherisch. Mehrere Male stieß sie sich den Hinterkopf, stauchte sich die Glieder und kam erst kurz vor Ende der Treppe mit einem Kinnaufschlag auf dem kalten Marmorboden zum Stillstand. Einen Augenblick lang blieb sie regungslos und ihr Bewusstsein wäre beinahe wieder ins Nichts gefallen. Langsam begriff sie, was geschehen war: dass sie den Halt verloren hatte und gestürzt war, von dort oben die Treppe hinunter, und deshalb hier lag. Sie untersuchte ihre Glieder. Knie und Beine schmerzten und ihre Fußgelenke blieben unbeweglich. Auf allen vieren kroch sie um zu einer blickgeschützten Ecke, um ihren Körper weiter in Augenschein zu nehmen. Das wenige Licht, das vom Fenster ins Innere drang, genügte, um ihren Körper betrachten zu können. Ihr erster Blick galt den starren Füßen. Sie steckten noch in ihren Schuhen und trugen die Strümpfe, die sie sich am Morgen übergezogen hatte. Die einzige Auffälligkeit an ihnen war ihre ungewöhnliche Stellung zueinander. Sie hoffte zu träumen, schloss die Augen, doch die Wirklichkeit, die stattfand, verschwand nicht.
Читать дальше