Die Gestürzte wollte die Augen ganz öffnen und die Mutter in ihre Arme schließen, aber im letzten Moment schossen ihr Zweifel durch den Kopf. Seit mehreren Monaten war die Mutter beruflich unterwegs. Nur einmal im Monat flatterte eine bunte Ansichtskarte in den Briefkasten. Die letzte war aus Venedig gekommen. So sah die Wirklichkeit aus. Sie beherrschte sich, wollte sich nicht täuschen lassen und hielt die Augen geschlossen, damit das Trugbild einsah, dass es durchschaut worden war. Doch stattdessen fühlte sie ein leichtes Streicheln, und das Krankenbett quietschte. Das Trugbild hatte offensichtlich nicht vor, rasch zu verschwinden. Es saß bequem auf ihrem Bett und räusperte sich leicht. Die Gestürzte hielt ihre Glieder angespannt, da sie ein aufkommendes Zittern spürte. Sie hatte das Gefühl, wenn sie die Augen öffnete und die Mutter plötzlich nicht mehr da war, würde sie für immer kraftlos versinken.
Als sie die Augen aufschlug, rückte die Mutter auf dem Bett herum und sah ihrem Kind in die weit geöffneten Augen. Beide verharrten, bis die Mutter ihr einen leichten Klaps auf die Wange versetzte. Sie hatte keine Zweifel mehr, die Mutter war ebenso Wirklichkeit wie ihr verbeulter Kopf und die ferne Geliebte, die vermutlich gerade den Hefter zuschlug und das Podium verließ. Die Mutter nahm ihre Hand und hielt sie fest. Während sich ihre Blicke trafen, hatte sich die Miene der Mutter mehrmals verändert und war zuletzt sogar von Besorgnis befallen worden, ob das, was da entstellt vor ihr im Bett lag, auch wirklich ihr Kind sei. Dann hob sich ihr Blick, und sie stellte die Frage, vor der sich die Gestürzte schon bei dem Schwätzer gefürchtet hatte. Sie fühlte sich zu schwach für die Wahrheit und wollte außerdem nicht an die ferne Geliebte erinnert werden. Deshalb blieb sie bei der Variante der plötzlichen Dunkelheit, die beim Blättern in den Büchern über sie gekommen war. Die Mutter hörte still zu, als die Gestürzte die hereinbrechende Dunkelheit ausführlich beschrieb und ebenso den Sturz von der Hochschultreppe, der auf den harten Marmorplatten geendet hatte. Darauf wollte sie von der Mutter wissen, wie es kam, dass sie urplötzlich an ihrem Krankenbett erschienen war. Sie hoffte, die Mutter mit dieser Frage an ihr unsichtbares gemeinsames Band zu erinnern, das beide fest in den Händen hielten, wodurch jeder vom Unglück des anderen wusste. Die Mutter erklärte jedoch, ihr sei ein dummes Missgeschick passiert, das ihre sofortige Abreise nötig gemacht habe. Da ihr obendrein die ganze Reisekasse abhandengekommen war, sei ein Rückflug unumgänglich gewesen, den sie auch rasch angetreten habe. Dann, gerade zu Hause angekommen und vom Flug noch ganz schwummerig im Kopf, hatte sie bereits das Telefon klingeln hören und so von dem Treppensturz erfahren. Diese herkömmliche Erklärung enttäuschte die Gestürzte. Was die Mutter für ein dummes Missgeschick hielt, war in ihren Augen zumindest ein glücklicher Zufall gewesen.
Sie griff sich an den Kopf, um danach die Mutter zu fragen, ob sie glaube, dass ihre Schwummerigkeit nur vom Flug verursacht worden sei, der so lang nicht gewesen war. Die Mutter brauchte jetzt nur noch darauf zu kommen, dass der vom Treppensturz deformierte Kopf schuld an ihrem Zustand war. Der Zusammenhang lag für die Gestürzte klar auf der Hand: Ihre Wunden und ihr Schmerz hatten sich auf wundersame Weise auf die Mutter übertragen. Die Antwort der Mutter kam nach einigem Zögern. Sie sprach davon, dass sie sich tatsächlich seit einiger Zeit merkwürdig schwindlig fühlte und hin und wieder von einem Frösteln befallen wurde, dem Schweißausbrüche folgten, wobei ihr häufig die Beine wegzuknicken drohten. Die Gestürzte richtete sich bei diesen Worten überrascht im Bett auf und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Seit Wochen spürte auch sie eine Schwäche in den Beinen, von der sie zwar wusste, woher sie stammte; was sie aber nicht geahnt hatte, war, dass die Mutter bereits die ganze Zeit mit ihr litt. Zufrieden räkelte sie sich im Bett. Die Mutter war für sie aus dem Boden herausgewachsen, wie einst am Rodelberg, somit hatte sich alles folgerichtig und sinnvoll und trotzdem märchenhaft und wundersam gefügt. Nun glaubte sie zu wissen, wie sie ohne den Himmel einen Sinn in den Ereignissen ihres Lebens sehen konnte. Allem voran hatte sie stets den Drang nach dem Bedeutsamen gestellt und war so weit gegangen, dass sich die Ereignisse dem Bedeutsamen wohl oder übel fügen mussten. Damit hatte sie das Pferd von hinten aufgezäumt, wie sie fand. Richtiger wäre es gewesen, das Ereignis erst einmal frei und offen geschehen zu lassen; erst dann kam der Betrachter hinzu, mit dem der Vorfall seine Beachtung und spätere Bedeutung erhielt. Das Ereignis war demnach auf den Betrachter angewiesen, und diesem stand es frei, welchen Sinn oder auch Nicht-Sinn er dem jeweiligen Vorfall geben würde. Jede Erklärung konnte die richtige sein und die Suche nach der Bedeutung ähnelte einem Schöpfungsakt, bei dem es wichtig war, die vorteilhafteste für sich herauszufinden.
Bei ihrem nächsten Besuch schlug die Mutter die Decke zurück. Der Anblick des Kopfes ihrer Tochter ließ sie das Allerschlimmste für die untere Hälfte des Körpers befürchten. Die Gestürzte blickte angespannt auf ihre Beine bis zu den Füßen. Zur Überraschung der Mutter setzte sich der traurige Zustand weiter unten jedoch nicht fort. Die Beine befanden sich nicht, wie sie gefürchtet hatte, in dicken Verbänden und die Füße hatten ihre bedenkliche Schiefstellung aufgegeben und standen wieder parallel. Die Mutter strich mit den Fingern über ihre Beine. Die Gestürzte erinnerte sich, wann sie das letzte Mal gestreichelt worden war, und zweifelte schließlich, ob man sie jemals so sacht berührt hatte. Sie weinte. Ähnlich wie bei ihrer ersten Liebe, in der der Stämmige zu weinen angefangen hatte, als sie ihm einen Knopf annähte, wurde sie beim Streicheln von etwas unbestimmt Schmerzhaftem ergriffen. Ihr kam qualvoll zu Bewusstsein, dass auch die streichelnde Hand der Mutter eines Tages im Grab verkümmern würde. Als sie die Mutter anschaute, vergrößerte sich der Schmerz noch, sodass die Mutter ganz vor ihren Augen verschwamm, und auch heftiges Wischen half nicht; die Mutter blieb verschwommen und undeutlich, und die Gestürzte hatte den Eindruck, als entferne sie sich immer mehr von ihr.
Die folgenden Tage vergingen rasch. Die Mutter kam zu ihr und setzte sich auf das quietschende Bett. Zuerst untersuchte sie die langsam verheilenden Wunden. Dabei bereitete ihr der immer noch deformierte Kopf am meisten Sorge. Die Gestürzte erbrach zwar nicht mehr, aber die Prellungen hatten Farbe angenommen und ließen den Kopf weit schlimmer aussehen als zuvor. Was darauf folgte, versetzte die Gestürzte jedes Mal in einen euphorischen Zustand, denn die Mutter beugte sich über sie − es begann nach Veilchen und Lavendel zu duften − und küsste ihr die kühle Stirn. Der Kuss war nicht mehr als eine Begrüßung; er war zwar nicht hingehuscht, wie die meisten seiner Art, aber auch nicht besonders innig und stand in keinem Verhältnis zu den Gefühlen der Gestürzten, die danach regelmäßig aufwallten. Die Mutter ahnte von solchen Empfindungen während des Kusses und auch hinterher nichts. Sie setzte sich auf das Bett und begann zu erzählen. Noch nie hatte der Kuss der Mutter ein feuriges Gefühl bei ihr hinterlassen; und sie befürchtete, dass die hitzigen Aufwallungen, die ihr bei aller Euphorie auch peinlich waren, etwas mit der fernen Geliebten zu tun haben mussten, die auf diese hinterhältige Art und Weise auf sich aufmerksam machen wollte. So blieb der Kuss nicht ohne Folgen. Jedes Mal verspürte sie ein großes Verlangen, die ferne Geliebte ganz dicht zu sich zu holen, und zugleich war sie sich sicher, dass die echte Geliebte in ihren Vorlesungen einen extra Hüftschwung für den Schleimscheißer einlegte und sie schon vergessen hatte. Erneut kam ihr zu Bewusstsein, dass es zwei Wirklichkeiten gab: In der einen hielt sie sich allein auf, dort hatte sie zwar ihre Träume und gab es himmlische Freiheiten, die sie sich jederzeit nehmen konnte, doch war es eine Wirklichkeit, in der sie sich abgetrennt vorkam, die von niemandem bemerkt oder gesehen wurde; eine Welt, in der nichts Überraschendes geschah, es sei denn, sie überraschte sich selbst. Und es gab die andere Wirklichkeit, die der fernen Geliebten eben und der restlichen Welt überhaupt, die ihr zuweilen übergroß erschien, die aber auch klein und grau werden konnte, sodass sie sich darin verloren vorkam und den Aufenthalt in ihrer eigenen Welt vorzog, die zumindest für einige Zeit mehr Trost und Schönheit versprach als die reale, vorgefundene.
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