Nach den Aufregungen des Kusses mischte sie sich stets in die Plaudereien der Mutter ein. Einmal wagte sie es nachzufragen, wie das dumme Missgeschick, das die Mutter übereilt zur Abreise gezwungen hatte, denn genau ausgesehen habe. Anfangs überhörte die Mutter diese Frage. Dann begann sie, mehr als sonst, mit den Beinen zu schlenkern, blickte zur Tür und sagte beiläufig: „Ach, weißt du …“
Die Gestürzte unterließ es von da an, die Mutter zu befragen. An einem Tag, der bewölkt war und winterlich kalt, wurde sie misslaunig – und die Welt war erneut eine blasse blaue Kugel, von der sie herunterzufallen drohte. Sie legte ihren Kopf in den Schoß der Mutter.
„Erzähl mir was Schönes“, bat sie und fügte noch hinzu, dass es ruhig ausgefallen sein könne und auch von der Liebe handeln dürfe, am besten von Prinzen und Prinzessinnen, und auch das Küssen sollte darin nicht vergessen werden. Die Mutter blickte sie überrascht an und fragte, wie es wäre, wenn sie etwas über ihre Reisen erzählte, von Venedig, zum Beispiel. Sie schüttelte den Kopf, kroch tiefer in den Schoß der Mutter und ein leichter Seufzer entrang dieser, als sie mit der Märchenstunde begann. Mit den Jahren war die Mutter etwas aus der Übung gekommen. Sie stockte mehrere Male, überlegte, versuchte sich zu erinnern und vergaß Details. Die Gestürzte nahm alles mit einem nachsichtigen Kopfnicken hin, denn der Prinz sollte endlich erscheinen. Die Mutter hatte ihre Lieblingsstelle bestimmt nicht vergessen und sie vielleicht noch vervollkommnet, denn sie war eine Frau, die sich in dieser Hinsicht nichts nachsagen ließ. Gespannt rollte sich die Gestürzte zusammen und wartete auf die Feurigkeit des Kusses. Zu ihrer Enttäuschung jedoch trat der Prinz ziemlich rasch in Erscheinung, und er schritt auch nicht in Erwartung des Kusses, wie vermutet, sondern stand ohne viele Umstände vor dem schlafenden Dornröschen. Dem Kuss erging es nicht viel besser: Nichts brannte da; die Mutter hatte die Lieblingsstelle völlig verhunzt. Daher war es auch nicht verwunderlich, dass sie das Feurige des Begrüßungskusses nicht gespürt hatte. Sie entrollte sich und löste sich vom Schoß der Mutter. Ihre Schwermut war abgeklungen. Die Mutter schwieg nach Beendigung der Märchenstunde und der Gestürzten entging nicht, dass die Mutter in den letzten Tagen eine leichte geistige Abwesenheit gezeigt hatte, so, als ob sie sich in eine andere Welt zurückgezogen hätte. Sie richtete sich im Bett auf, während die Mutter die kahle Krankenhauswand neben sich beschaute. Von der Seite betrachtet, sah sie verändert aus. Ihre weichen, schönen Gesichtszüge waren herb und um die Mundwinkel zog sich etwas Energisches. Die Gestürzte fand es erstaunlich, wie ein wenig Nachdenklichkeit das Gesicht eines Menschen in ein anderes Licht rücken konnte. Die Mutter sah nun ihrem Alter angemessen aus.
Die zeitweilige Unaufmerksamkeit der Mutter, die mit einer Verkürzung ihrer Besuche einherging, hatte auch etwas Gutes: Die Gestürzte hatte wieder mehr Zeit für sich. Die tägliche Anwesenheit der Mutter hatte dazu geführt, dass sie nur noch wenig Gelegenheit zum Träumen fand. Hinzu kamen die häufigen Visiten und das unvermittelte Hereinschneien der Schwestern. Die frühen Morgenstunden waren die einzigen, in denen sie ungestört in der Horizontalen ihren Gedanken nachhängen konnte. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte, dass sie sich nicht nur nach einem Kuss sehnte, sondern selbst schamlos küssen wollte. Außerdem hatte sich die Geliebte seit geraumer Zeit verdächtig still verhalten. Das Bewusstsein der Gestürzten füllte sich nicht gleich mit ihr auf, wenn sie erwachend die Augen öffnete; erst nach ein paar Handgriffen fiel ihr ein, dass es eine Frau gab, die fern von ihr vor einem Podium stand. Doch sie ahnte auch, dass ihr Verlangen, zu küssen, unmittelbar mit jener in Verbindung stand, es Signale waren, die aus ihrem Innern kamen und aus der tiefsten Tiefe zu ihr nach oben drangen. Das große Ereignis zu beherrschen wurde damit schwieriger. Sie musste nicht nur ihr Herz überlisten, sondern auch ihr Unterbewusstsein, von dem sie nicht einmal wusste, was es gerade im Schilde führte.
Dass sich jene Frau am Pult tatsächlich in ihrem Unterbewusstsein eingenistet hatte, wurde der Gestürzten in den nächsten Tagen deutlich. Sie hatte bisher nicht verstanden, warum sie beim Hereinschneien der Schwestern stets zuerst auf deren Schuhe achtete. Keiner dieser Schuhe unterschied sich vom anderen, und ihr einheitliches Weiß machten die Füße der Schwestern wenig attraktiv. Trotzdem lief ihr beim Anblick der Schuhe jedes Mal ein Schauer über den Rücken und ihre Augen rutschten weg. Dann erkannte sie, warum sie so fühlte, und eine große Unruhe und Ohnmacht ergriff sie – ihre ferne Geliebte trug ebenfalls weißes Schuhwerk! Dieses ähnelte zwar nur sehr entfernt den zerschlissenen Latschen der Schwestern, war aber immerhin vergleichbar, was ausreichte, um bei der Gestürzten starke Wallungen hervorzurufen. Erschrocken hoffte sie, dass nicht jedes Kleidungsstück, das sie an die Frau erinnerte, ähnliche Empfindungen auslösen würde. Wie viele Menschen trugen weiße Schuhe, und noch mehr blaue Hosen, und wie viele Menschen tranken Tee aus Tassen und hielten Käsebrötchen auf ihren Tellern!
Die ferne Geliebte lieber direkt und bei klarem Bewusstsein bei sich zu haben, damit die nicht aus ihrem Unterbewusstsein Dinge nach oben sendete, die verwirrend waren, kam ihr sinnvoll vor, um die Fäden besser in der Hand zu haben. Daraufhin saß die Geliebte jeden Morgen bei ihr am Krankenhausbett. Beide unterhielten sich oft stundenlang. In einem ihrer Gespräche erfuhr die Gestürzte allerdings Dinge, von denen sie lieber nicht gehört hätte. Die Geliebte sah sie dabei sehr streng an. Sie hatte durch ihre Anwesenheit im Unterbewussten der Gestürzten einiges mitbekommen, von dem sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Es herrsche dort unten ein heilloses Durcheinander, meinte die Geliebte. Besonders waren ihr die vielen offenen Truhen voll loser Knöpfe aufgefallen; kleine abgetrennte Finger lagen überall herum, und mehrere große schlanke Männer, zu denen sie nicht Nein sagen würde, saßen in unaufgeräumten, verlassenen Ecken und hatten ihr Herz neben sich liegen. Auch glaubte sie sich auf einem Schiff befunden zu haben, denn es schaukelte dort sehr heftig und besonders nachts wurden alle kräftig geschüttelt. Sie erinnere sich auch, redete die Geliebte weiter, dass es so etwas wie einen Maschinenraum gegeben habe. Eines Tages, als ihr besonders langweilig gewesen war, da die Mutter den ganzen Tag bei ihr verbracht und sie in Beschlag genommen hatte, war sie umhergelaufen und hatte hinter einer Tür ein kräftiges rhythmisches Stampfen gehört. Als sie die schwere Eisentür öffnete, wozu sie sich ordentlich dagegenwerfen musste, hatte sie eine Überraschung erlebt. Sie sah keine großen Maschinen, vielmehr waren Stahltaue um einen Pflock gewickelt, es tropfte von der Decke und von irgendwoher trieb ein Ventilator dem Besucher Luft zu. Woher das Stampfen kam, war nicht zu klären, doch an den Tauen ließ sich bereits ein starker Verschleiß erkennen. So war ein Tau ganz und gar durchtrennt und hing schlaff an dem Pflock. Vermutlich hätten die Taue die Aufgabe, das Schiff vor einer vollkommenen Schieflage zu schützen, nahm die Geliebte an, doch sie glaubte nicht, dass derart morsche Vorrichtungen dem nächsten Sturm noch gewachsen wären. Im Übrigen ließ sich doch ein Antrieb ausmachen. Hinter einer weiteren Eisentür befand sich ein großes Zahnradgetriebe, das mühsam seine Arbeit verrichtete und unbedingt geölt werden sollte. Sie sei ja jedenfalls froh, schloss die Geliebte, dass sich nicht der Boden unter ihr aufgetan hatte, was sie kaum überrascht hätte. Darauf trat Schweigen ein und ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Gestürzte hatte sich bereits nach deren ersten Worten aufgerichtet und war leichenblass geworden. Ihr ganzes unaufgeräumtes Unterbewusstsein, mit seinen verdrängten Taten und Untaten, hatte die Geliebte auf einen Schlag zu sehen bekommen.
Читать дальше