Tränen kamen ihr in die Augen und tropften auf die Hose. Sie schleifte sich weiter und landete in einem kaum sichtbaren Winkel. Erleichtert, sich selbst aus dem Weg geräumt zu haben, zog sie sich hoch, lehnte ihren Rücken gegen die Wand und berührte ihr aufgeschlagenes Kinn; das Grübchen, das sich dort befand, war durch Abschürfungen unkenntlich geworden. Hinzu kamen zwei Wunden, eine saß in der Nähe der Augenbraue und die andere am Hinterkopf. An ihrem Körper hatte neben den Füßen besonders das linke Handgelenk gelitten. Es war ebenfalls unbeweglich und schmerzte beträchtlich. Der Schmerz an Schienbeinen und Kniegelenken ließ rasch nach, dafür begann es, in ihrem lädierten Kopf zu hämmern und Übelkeit stieg in ihr auf. Anfangs sah sie darin eine ganz natürliche Erscheinung, denn sie hatte seit den Morgenstunden nur starken Kaffee aus dem Automaten getrunken. Wenig später aber ließ die Stärke des Brechreizes vermuten, dass dieser mit ihrem Kopf und den sichtbar werdenden Hörnern zusammenhing. Der Sturz von der Treppe hatte die sonst gut geschützte graue Masse in Vibration versetzt. Außerdem zeichnete sich unterhalb der Treppe ein roter Fleck ab, den ihr Kinn verursacht hatte. Sie dachte an das nachtschwarze Firmament und beschloss, dem Himmel nicht mehr zu trauen. Danach schlief sie ein. Ihr Körper zuckte, als wäre er mit kleinen elektrischen Leitungen verdrahtet. Der Schlaf dauerte einige Stunden, ein unruhiger Schlaf, der manchmal nur ein leichtes Dämmern war. In einem solchen Moment fühlte sie, wie ein Regenflur aus den Wolken auf sie niederging. Unter ihren Füßen wurde der Boden weich, und Himmel und Erde vereinten sich zu einer wässrigen blauen Kugel, auf der sie den Halt verlor und im Schimmer der Masse verschwand.
Sie erwachte davon, dass die große Haupttür geöffnet wurde. Schritte waren zu hören, danach das Schließen einer Tür, und kurz darauf erklang leise Radiomusik. Ihren Kopf aus dem Winkel reckend, begriff allmählich, dass sie diese Nacht überlebt hatte. Zugleich schossen ihr erneut Tränen in die Augen, da ihr Erwachen nicht in einem behaglichen Bett stattfand, wie sie insgeheim noch gehofft hatte. Für Sekunden saß sie regungslos, bis sie heftig zusammenfuhr. Die Haupttür war krachend ins Schloss gefallen und ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich in der realen Wirklichkeit befand. Dem Ersten, der sie entdeckte, wollte sie eine glaubhafte Geschichte erzählen. Jene verschwundene Frau am Pult durfte darin nicht vorkommen und erst recht nicht, dass sie stundenlang auf eine kleine weiße Türklinke gestarrt hatte. Sie dachte nach, denn die Geschichte sollte plausibel und schlicht sein; etwa in der Art, dass sie beim Blättern in den Büchern die Zeit aus den Augen verloren hatte, dann − während sie den Ausgang suchte − das Licht erloschen war, sodass sie die Orientierung verlor und stürzte. Bis auf den Anfang stimmte die Geschichte sogar. Plötzlich zuckte es in ihren Füßen. Besonders der linke schnellte mehrmals in die Höhe und beruhigte sich erst, als sie ihn festhielt. Ängstlich drückte sie sich an die Wand und schaute mit prüfendem Blick auf die ungelenkig zueinanderstehenden Füße. Von irgendwoher, dachte sie, mussten ihre Füße bewegt worden sein. Sie versuchte es selbst, aber nichts geschah, die Füße blieben starr. Nun tropfte es aus ihren Augen nicht nur, vielmehr bildete sich ein Rinnsal, das ihre Brust benetzte. Es war das Weinen einer Enttäuschten. Sie war gestürzt und hatte nirgendwo das Seil gefunden, von dem sie immer geglaubt hatte, dass es im Notfall schon irgendwo hängen würde. Und sie begriff: Auch wenn sie ihrem Leben und den Ereignissen darin keine besondere Bedeutung mehr geben und alles Höhere zukünftig meiden wollte, verhielten sich die Dinge des Daseins deshalb noch lange nicht schmerzfrei und still, und selbst die Bedeutungslosigkeit konnte in höchster Erregung heftig schmerzen, manchmal gerade deshalb, weil man den Sinn am Ende doch vermisste.
Sie fasste sich an den schwindelnden Kopf und ihr linker Fuß zuckte abermals, was die Verliebte aber kaum noch bemerkte, da sie kurzzeitig wieder in einen leichten Schlaf fiel, in dem sie zu träumen begann. Das angeschlagene Hirn schickte ihr Bilder, die zapplig und diffus waren, und erst allmählich legte sich die Konfusion und sie erkannte sehr deutlich ein Gesicht. Das Augenpaar gehörte jener Person, an deren Brust sie sich noch als Vierzehnjährige geschmiegt hatte. Im Traum sah sie die Mutter auf einem Stuhl sitzen. Sie wippte mit ihren schlanken Beinen und erzählte mit samtiger Stimme die herrlichsten Geschichten: Venedig kam darin vor, das Meer mit seinen Wellen, auf denen man gleiten konnte, ein Mann, der der schönste war, und der Mond. Die Träumende befand sich abseits und hörte den Worten der Mutter unruhig zu. Dabei spürte sie, wie ihr Kopf hochrot anschwoll, größer und größer wurde und befürchten ließ, dass er gleich platzen würde. Die Mutter hingegen schien die Veränderungen am Kopf ihres Kindes nicht zu bemerken, denn sie sprach im Plauderton weiter, von ihren großen Reisen durch die Welt und von einem Leben, das einem hübsch verpackten Geschenk glich. Kurz darauf sah sich die Träumende vor dem Briefkasten der Mutter stehend. In der geballten Faust hielt sie ihren kleinen Finger, den sie sich selbst abgetrennt hatte. Sie öffnete die Hand, griff in die Tasche, holte ein Tuch hervor, wickelte den abgetrennten Finger sorgfältig darin ein und warf ihn der Mutter in den Briefkasten.
Als sie erwachte, vergaß sie den Traum. Zurück blieb die Empfindung, soeben etwas Unangenehmes erlebt zu haben. Ihre Schmerzen wurden stärker, und ihr Mund glich einer Wüste, die nur vom salzigen Geschmack der Tränen befeuchtet wurde. Sie wischte sich über die Augen und wollte, dass man sie endlich fand. Dafür musste sie sich bemerkbar machen, etwa mit einem Ruf oder einem kurzen, kräftigen Pfiff. Sie entschied sich für den Ruf. Anfangs war nur ein Krächzen zu hören, danach sehr laut ein Ruf, der bis ans Pförtnerhäuschen drang. Es geschah jedoch nichts, sie hörte keine Schritte, und keine Hand legte sich beruhigend auf ihre Schulter. Ihre Gedanken wanderten erneut zur Mutter. Früher, wenn sie krank war oder nicht einschlafen konnte, hatte sich die Mutter nahe an ihr Bett gesetzt und wunderbare Geschichten erzählt, die sie allesamt selbst erlebt hatte. Auch heute noch glaubte sie der Mutter fast alle ihre abenteuerlichen Erlebnisse und hätte sich gern an ihre Brust geschmiegt. Dabei erinnerte sie sich an einen Vorfall aus ihrer Kindheit: Sie war vom Rodelberg des Kindergartens, der sich gleich hinter dem Haus befand, kopfüber in den verharschten Schnee gestürzt, war mit dem Kinn aufgeschlagen und hatte ihre ersten drei Milchzähne verloren. Das Blut floss in den weißen Schnee, was die Gestürzte in völlige Panik versetzte. Augenblicke später, nachdem die herbeieilenden Erzieherinnen vergeblich versucht hatten, die Schreiende zu beruhigen, trat die Mutter aus der Hintertür des Hauses und bewegte sich in Richtung Rodelberg. Sie schien urplötzlich aus dem Boden gewachsen zu sein, schritt geradewegs auf ihr schreiendes Kind zu, hob es wortlos auf, nahm es in den Arm und entschwand wieder durch die Tür des Hauses, wobei ihr Kleid von einem leichten Luftzug bewegt wurde. Die Schreiende wunderte sich im Gegensatz zu den Erzieherinnen nicht, woher die Mutter so plötzlich gekommen war; ihr erschien es selbstverständlich, dass die Mutter, den Unfall ihres Kindes ahnend, herbeigeeilt oder, besser noch, bereits vor dem Sturz in Unruhe zu ihr aufgebrochen war. Das Märchenhafte dieses Vorfalls nahm in ihren Augen, je öfter sie später daran dachte, an Bedeutsamkeit zu. Er bewies ihr, dass die Mutter nicht flunkerte, wenn sie davon sprach, sie werde immer auf sie aufpassen. Seitdem gab es in ihrem Leben etwas Märchenhaftes und Wundervolles. Als sie jetzt daran dachte, ergriff sie ein warmes Gefühl für die Mutter, und sie war wieder überzeugt, dass irgendwo ein Seil hing, das sie auffangen und sichern würde.
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