Aus Wolfgangs Arbeitszimmer hörte Dennis Stimmen. Die Tür stand einen Spalt weit offen.
Er blieb abrupt stehen. Hatte er jetzt schon akustische Halluzinationen? Er lauschte. Nein, es war keine Halluzination. Er musste sich irren, es musste eine ähnliche Stimme sein. Neugierig stupste er mit dem Zeigefinger die Tür etwas weiter auf. Weit genug, um den Hageren und Knolle zu erkennen.
Dennis wich zurück und drückte sich an die Wand. Er hatte sich nicht geirrt. Was um alles in der Welt bedeutete das? Er hatte doch geliefert, warum mussten sie ihn verpfeifen?
Das Gespräch im Arbeitszimmer war inzwischen lauter geworden. „Und dann fahrt ihr Idioten die Ladung auch noch gegen einen Baum! Wenn ihr wenigstens die Frachtpapiere mitgenommen hättet, aber nein, dafür seid ihr zu blöd", brüllte Wolfgang.
Dennis horchte auf. Hier ging es überhaupt nicht um ihn.
„Mit den Papieren können sie nichts anfangen. Noch weiß niemand, wer unser Auftraggeber …", versuchte Knolle Wolfgang zu besänftigen, aber der Hagere unterbrach ihn: „Die Polizei interessiert bestimmt, was es mit der verunglückten Lieferung auf sich hat.“
„Wollt ihr mich erpressen?“
„Wir müssen untertauchen. Dazu brauchen wir Knete", erwiderte der Hagere nüchtern.
„Etwa als Belohnung dafür, dass ihr die Sache vergeigt habt?“
„Wir können auch hier bei dir untertauchen. Ein paar Tage halten wir es locker aus.“
„Ich habe nicht genug Geld hier", antwortete Wolfgang barsch.
„Dann wirst du es beschaffen. Wir kommen morgen wieder."
„Aber nicht hierher. Wir treffen uns morgen um 23 Uhr am Fischweiher. Am Steg. Wisst ihr, wo das ist?"
„Ja", sagte Knolle.
„Verschwindet jetzt!"
„Wenn du versuchst uns reinzulegen, bist du auch dran", drohte der Hagere.
Dennis konnte gerade noch rechtzeitig in sein Zimmer huschen, wo er die Tür hinter sich anlehnte.
Das war die Härte. Wolfgang machte mit diesen Typen krumme Geschäfte und ihn motzte er an, weil er ein paar Packungen auf eigene Rechnung verkauft hatte. Nicht zu glauben, wie schnell sich Probleme lösen konnten. Wenn Wolfgang ihm blöd kam, würde er ihn einfach an diesen Besuch erinnern. Und was die beiden Typen betraf, die war er jetzt ohnehin los, da sie offenbar untertauchen mussten.
Kaum waren die Männer weg, hörte er Wolfgang im Flur telefonieren. „Wir haben ein Problem … Nein, morgen um 23 Uhr am Fischweiher. Du musst …"
Den Rest verstand er nicht mehr, da Wolfgang wieder im Arbeitszimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss.
Am nächsten Morgen betrat Dennis pfeifend die Küche und goss sich einen Kaffee aus dem Automaten ein. Diese Nacht hatte er richtig gut durchgeschlafen. „Guten Morgen.“
„Morgen.“ Wolfgang blätterte in der Zeitung.
„Du hattest gestern Besuch?", fragte Dennis so beiläufig wie möglich und setzte sich zu ihm an den Tisch. Es kostete ihn Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen.
Wolfgang sah auf und musterte ihn. „Ja." Er hatte dunkle Ränder unter den Augen.
„Was wollten die beiden?"
Wolfgang legte die Zeitung zur Seite. „Nichts Wichtiges. Sie waren von einer Spedition und wollten Geld für eine Lieferung, die nie angekommen ist." Nervös strich er sein Haar nach hinten. „Ist dein Auto repariert?"
„Die Rechnung liegt in meinem Zimmer.“ Von wegen Spedition, dachte Dennis. Er nahm sich ein Stück Zeitung, überflog die Schlagzeilen auf der ersten Seite und blätterte weiter. Ein Artikel sprang ihm in die Augen: "Warnhinweis!- Falsche Pillen!"
Zehn Todesfälle und zahlreiche schwerwiegende Zwischenfälle werden dem Nahrungsergänzungsmittel Slim attac zugeschrieben. Die Dunkelziffer wird auf über 100 Fälle geschätzt. Auch einige bislang ungeklärte Autounfälle infolge von Kreislaufversagen werden auf die Einnahme dieses Präparates zurückgeführt.
Das Produkt, das überwiegend über Fitnessstudios und Internetshops vertrieben wird, enthält nach Angaben des Untersuchungsamtes Amphetamine. Der Wirkstoff ist ungleichmäßig auf die Kapseln verteilt, was zu unterschiedlichen Reaktionen führt.
Wegen laufender Ermittlungen gibt die Polizei keine weiteren Auskünfte zu den Hintergründen.
Dennis’ Mund fühlte sich trocken an, seine Hand zitterte. Das war doch das Präparat, das er für seinen eigenen kleinen Handel abgezweigt und dann auch Nicole gegeben hatte.
Er legte das Blatt auf den Tisch und deutete auf den Artikel. „Führt ihr das Zeug auch?" Die Frage war überflüssig, denn es mussten die Packungen sein, die sein Onkel als gestohlen registriert hatte. Trotzdem war er auf seine Reaktion gespannt.
Wolfgang beugte sich über die Zeitung. Nach einer Weile schob er sie weg und sagte: „Meinst du, ich kenne bei zigtausend verschiedenen Präparaten jedes einzelne?" Er stand auf und hatte es mit einem Mal sehr eilig.
Dennis trank einen Schluck Kaffee. An der Sache war mächtig was faul. Zu dumm, dass er keine Packung mehr hatte.
7. Kapitel
Lena hatte ihn mit ihrem Misstrauen angesteckt. Wie ein Virus breitete es sich aus, auch wenn Dennis sich noch so bemühte, es zu bekämpfen.
Der Zeitungsartikel ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Am Nachmittag fuhr er zu Fermesio. Er musste sich davon überzeugen, dass die Präparate, die er und Nicole eingenommen hatten, tatsächlich dieselben waren, vor denen in der Zeitung gewarnt wurde.
Der Pförtner an der Lieferantenzufahrt war neu. Er verlangte den Ausweis. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie nicht erkannt", stammelte er und öffnete die Schranke.
Dennis parkte beim Warenausgang, dort war um diese Zeit wenig los. Niemand wunderte sich, wenn er durchs Lager streifte, schließlich kannten ihn die meisten Mitarbeiter. Er schaute hoch zur Empore, einem Gang in der Zwischenetage, von wo aus man den vorderen Teil des Lagers überblickte. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn Wolfgang ihn von dort oben beobachtet hätte.
Entlang der Fließbänder, auf denen die Kisten für die Apotheken transportiert wurden, ging er zum hinteren Lagerbereich, wo er letztes Mal die Packungen geholt hatte.
„Dennis, was führt Sie zu uns?" Eine Frauenstimme ließ ihn zusammenzucken.
Er drehte sich um, vor ihm stand Brigitte Berger. Sie arbeitete im Einkauf und war Wolfgangs rechte Hand. Im Betrieb munkelte man, er habe ein Verhältnis mit ihr, was er für ein Gerücht hielt. Sie war fast zwanzig Jahre jünger als Wolfgang und hatte eine erstklassige Figur.
Dennis konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Wolfgang ihr Typ war. Überhaupt konnte sich Dennis an keine Frau erinnern, die in Wolfgangs Leben eine wirkliche Rolle gespielte hatte. Den Haushalt führte Svetlana, die täglich für drei Stunden kam, und ansonsten…? Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
Frau Berger rückte ihre Brille zurecht. Sie wartete noch immer auf eine Antwort.
Er räusperte sich. „Das fragt eine schöne Frau?"
„Wie sehen Sie denn aus? Hatten Sie einen Unfall?“
Dennis winkte ab. „Ist nichts weiter. Ich bin ausgerutscht.“
„Und auf die Nase gefallen.“ Sie zog die Brauen hoch. „Was macht das Studium?"
„Bin fast fertig. Wolfgang hat erzählt, dass Medikamente gestohlen wurden. Wissen Sie etwas darüber?“
„Nein.“ Sie wirkte verwirrt, obwohl sie versuchte, es zu verbergen. „Ich muss wieder zurück, die Arbeit ruft.“
„Darf ich Sie begleiten? Von Ihnen könnte ich im Einkauf bestimmt viel lernen." Er sah ihr direkt in die Augen und lächelte sie an. Dieser Blick funktionierte bei allen Frauen.
„Wenn Sie meinen." Verlegen fasste sie sich ans Ohrläppchen.
„Mich würde zum Beispiel interessieren, wie Sie das mit den Lieferanten organisieren."
Frau Berger musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Es war klar, sie glaubte ihm kein Wort. Wahrscheinlich war er zu plump vorgegangen. „Dafür gibt es Lieferantenlisten."
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