Den Platz in die Museen werden sie wahrscheinlich nie finden. Doch etwas anderes geschieht: Tamara vermittelt sie an Krankenhäuser oder öffentliche Einrichtungen. Dort haben sie dann ihren Platz für den ganz ‚alltäglichen Gebrauch’, wenn ich so sagen darf. Und der Künstler weiß, wer die Menschen sind, die seine Kunstwerke ansehen.
Wieder ein kleines Plus an Freude.
Lassen Sie uns nun zur Kapelle gehen!“
Sie schlug den Weg zu einem hübschen weißen Gebäude ein mit zwei Kuppeltürmchen und einer Reihe bunter Glasfenster.
Ich hatte von dieser Kapelle bereits gehört, auch manches was mir eher skurril erschien.
„Man erzählte mir von den Andachtsfeiern in der Kapelle und dass dort auch getanzt wird.“
„Während der Andacht?
Nein. Auch feiern wir keine wilden, ausschweifenden Feste, wie manche Gerüchte behaupten.
Die Leute – diese in den angrenzenden Häusern und Straßen – lassen gern ihre Fantasien spielen. Alles was ihre eigenen Wünsche sind, die heimlichen und nicht ausgelebten, packen sie in diese Fantasien hinein. Und sind erst die ersten Gerüchte in der Welt, pflanzen sie sich in Windeseile fort.
Nein, Orgien feiern wir nicht – auch wenn es keine Tabus für den einzelnen gibt, wie er sich das Leben genussvoll macht. Alles was nicht auf Kosten eines anderen geht, unterliegt keinem Tabu und keinem Verbot.
Kommen Sie! Werfen wir einen Blick hinein.“
Wir betraten die Kapelle, die im sanften Licht der farbigen Glasfenster schimmerte.
Unter einer gleichfalls mit Glasfenstern ausgestatteten Kuppel befand sich ein kleiner mit Kerzen und Blumen geschmückter Altar. Auf der rechten Seite standen und hingen eine Reihe von Instrumenten: ein Keyboard, Geigen und Gitarren, ein Bass, Trompeten und andere Blasinstrumente sowie Schlagzeuge.
„In jedem Fall aber wird musiziert!“
„Reichlich!“ sagte Schwester Eveline, und ihre Wangen glühten immer noch kräftiger. „Und es wird auch getanzt und gefeiert. Doch nicht während der Andacht, manchmal muss auch Einkehr und Ernst sein.“
„Es sind Andachtsfeiern ohne professionelle Pfarrer oder Priester, wie ich hörte – das ist doch diesmal korrekt? Und es wechseln die unterschiedlichen Konfessionen - es gibt protestantische und katholische Andachten, auch solche von Adventisten und anderen christlichen Religionsgemeinschaften; selbst von Buddhisten und Moslems.“
Wir wanderten an den Glasfenstern entlang.
„Das entscheiden die Leute hier in der Station,“ sagte Eveline. „Wer eine muslimische Andachtsfeier gestalten will, lädt die anderen dazu ein. Jeder kann seine eigene ihm wichtige Andachtsfeier den anderen anbieten. Und er kann auch einen Pfarrer beauftragen. Das tun nur wenige.
Wenn am Sonntag eine Andacht gefeiert wird, dann folgt meistens ein gemeinsames Fest. Dann wird musiziert und getanzt. Dann wird gut gegessen und gut getrunken.
Tamara sagt es so: Dem kleinen Fest für Geist und für Seele soll nun ein Fest für Seele und Körper folgen – nicht geistlos, doch die Leute dürfen sich den Wanst vollschlagen, so viel wie sie wollen.
Freilich, wer stark betrunken ist und zu pöbeln beginnt, der wird in eine Baracke verbannt und muss zunächst seinen Rausch ausschlafen.
Ich sagte es schon: Es gibt durchaus gewisse Gesetze. Wir haben sie gemeinschaftlich so festgelegt.“
Wir verließen die Kapelle. Jetzt blickten wir auf den dahinter liegenden Sportplatz.
„Dort ist sie – wie ich es vermutet habe,“ rief Schwester Eveline aus.
Auf dem Sportplatz tummelte sich eine Gruppe von jungen Männern bei einer Baseballspiel-Übung. Es waren Weiße, Schwarze und Puertoricaner gemischt. Eine Frau am hinteren Ende pfiff jeweils die Schüsse an.
Plötzlich griff die Frau selbst den Schlagknüppel und schlug den Ball in phantastisch hohem Bogen über den Platz. Beifall, laute Ho!Ho!-Rufe der versammelten jungen Männer. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung.
„Wollen wir zu ihr?“
Eveline zögerte . „Wissen Sie – ich erzähle Ihnen so selbstverständlich all diese Dinge über unsere Station und ich vergesse oft dabei, dass ich so vieles eigentlich hier erst gelernt habe.
Ich selbst stamme aus einem Elternhaus mit einer stark religiösen Prägung. So war auch meine Erziehung. Mir wurde beigebracht, und ich glaubte es auch, dass ein gottgefälliges Leben ein Dasein in Verzicht und Askese bedeutet. Körperliche Freude war verpönt, die Freude am Essen noch gerade geduldet.
Ich musste das alles umlernen. Und ohne Tamara wäre es mir wohl nie gelungen. Sie sagt es mit ganz einfachen Sätzen: Alles was die Kirche an Sünden erfunden hat, können wir getrost vergessen – bis auf eine: Einen anderen Menschen schädigen, ihn belügen, bestehlen oder ihm Gewalt antun – das tatsächlich ist Sünde. Es ist die einzige.
Wer ein gottgefälliges Leben führen will, der muss dieses einzige Gebot beachten. Es gibt kein anderes, das wichtig wäre.“
Tamara, die Frau am Ende des Feldes, hatte uns jetzt erspäht.
Sie kam auf uns zu.
Schwester Eveline stellte mich vor.
Tamara war durch meine telefonische Anfrage bereits im Bild. Wir schüttelten uns freundlich die Hand.
„Sie schlagen fantastische Bälle.“
„Alles eine Sache der Übung.“
„Sie haben diese Station aufgebaut. – Allerdings sehen Sie sich nicht als Chefin oder wollen jedenfalls so nicht genannt werden.“
Tamara lachte. „Hat Schwester Eveline Sie da bereits informiert? - Chef und Chefin ist hier jeder für seinen eigenen Arbeitsbereich. Chefsein bedeutet, dass man verantwortlich ist.“
„Ja, Schwester Eveline hat mich eben herumgeführt und mir schon vieles gezeigt und erklärt. Ich war sehr beeindruckt. Vor allem von den demokratischen Abstimmungen und der solidarischen Verteilung der Gelder.“
Tamara lachte erneut. „So ist es: dass das eigentlich Selbstverständliche uns überrascht und beeindruckt, wenn wir es irgendwo in der Wirklichkeit antreffen.
Der Maßstab ist: Wann sind die Leute zufrieden und glücklich? Übrigens, wenn sie es sind: dann arbeiten sie auch effektiv – mehr als sie es sonst tun. Viele professionelle Unternehmer haben noch immer versäumt, das zu begreifen.
Wenn Sie wollen, gehen wir ins Haus und Sie können mir gern einige weitere Fragen stellen.“
Und jetzt stand mir die erst wirklich große Überraschung bevor. Als wir Tamaras Arbeitsbüro betraten, entdeckte ich ein kleines Familienfoto an der Wand: Tamara, etwa im Alter von Mitte zwanzig, der Vater, die Mutter, bei ihnen ein Halbwüchsiger mit den Zügen von Anthony.
Mein Blick bohrte sich in das Bild. Eine Täuschung?
Nein, Anthony und ich kannten uns seit dem neunzehnten Lebensjahr. Dies war unverkennbar das Gesicht des jungen Anthony.
So wagte ich nun zu fragen. Ich nannte Anthonys vollständigen Namen.
Er war es: ihr Bruder.
Anthony hatte mir gegenüber einmal eine acht Jahre ältere Schwester erwähnt. Doch nie hatte er Genaueres von ihr erzählt. Auch ihre Sozialstation erwähnte er nie.
Warum sich dies so verhielt, erfuhr ich bald darauf.
Das Schweigen Anthonys bedeutete keine innere Distanz gegenüber der Schwester. Im Gegenteil, sie fühlten sich immer sehr eng verbunden.
Doch gab es da vor Jahren ein trauriges bitteres dunkles Kapitel in Tamaras Leben, das dieses Leben fast zum Scheitern gebracht hätte. So vermied Anthony das Reden über sie damals fast ganz.
Ich werde später davon berichten.
Jetzt kehre ich zu unserem kleinen Warteraum auf der Insel zurück.
Eine große Freude stand uns bevor, mir und Patrick.
Bevor ich die Szene schildere, lassen Sie mich noch etwas zu meinem Freund und Begleiter Patrick sagen.
Patrick hatte vor allem diese besondere Eigenschaft: Er konnte schweigen; lange und in einer Ausführlichkeit, die ihm manche als Unhöflichkeit angekreideten. Doch es bedeutete nur: Jeder Zug von Geschwätzigkeit war ihm fremd. Wer ihn kannte, der wusste: Er war dann in diese Wolke von Schweigen und Musik eingehüllt. Er entzog sich nicht. Auch wenn er schwieg, spürte man seine Aufmerksamkeit und seine starke Präsenz.
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